Fortsetzung vom 12.11.2016; Im Dickicht der Zeichen; Nora Meranes erster Fall; ein Krimi

Bild zeigt Annelie Kelch
von Annelie Kelch

Er stand an einem der kranken Bäume gelehnt, die aussahen, als wollten sie jeden Moment „aus den Latschen kippen“. Die Arme über der Brust verschränkt, betrachtete meine Jugendliebe die seit Jahrzehnten ungestört ins Kraut schießende Vegetation, als läge darunter die Offenbarung verscharrt. Nur ungern erinnere ich mich heute daran, dass ich mit meiner flapsigen Skizzierung der Wahrheit buchstäblich auf die Pelle gerückt war; aber unser Gedächtnis lässt sich nicht manipulieren.

Marcs dunkelblonde, kurzgelockte Haare waren zwar an den Schläfen stark ergraut, aber noch recht üppig. Er trug die gleiche Frisur wie vor Jahrzehnten: einen scheitellosen Messerschnitt, knapp in die von zahlreichen Querfalten durchzogene Stirn gekämmt. Seine schwarze Jeanshose war nicht ganz so eng, wie man es früher von ihm gewohnt war, aber das olivgrüne T-Shirt umspannte seine schmale, muskulöse Brust wie eine zweite Haut. Um seine Hüften hatte er eine gelbe Regenjacke, einen so genannten Friesennerz, geknotet, eine längst ausgestorbene Tierart, wenn Sie mich fragen.

Dass wir ausgerechnet hier aufeinander trafen, einen Steinwurf von der Schule entfernt, war schon mehr als seltsam. Als Marc langsam seinen Kopf zur Seite drehte und mich eingehend musterte, fühlte ich ein sanftes Prickeln in der Magengegend, und mein Herz fing gefährlich an zu flimmern.

„Du, Nora?“, fragte er fassungslos. „Seit wann heißt du Merane?“

„Seit meiner zweiten Scheidung“, hauchte ich kleinlaut - und leicht beschämt, obwohl es für derlei Anwandlungen nicht den geringsten Grund gab. Viele meiner Kolleginnen waren mehr als einmal geschieden, denn längst nicht jeder Mann fühlt sich den wachen Augen einer Kriminalistin auf Dauer gewachsen, es sei denn, er übt einen ähnlichen Beruf aus.

Marcs Augen strahlten noch ebenso himmelblau wie damals, während unserer Schulzeit, ja, sie leuchteten verwegener als die Augen des Westernhelds Terence Hill. Auf dem Rest seines schmalen Gesichts spiegelten sich unverkennbar die Züge Clint Eastwoods, und das war wahrscheinlich auch der Grund, weshalb ich am laufenden Band „Die Brücken am Fluß“ sehen konnte, und wäre Marc nur einen Tick größer gewesen, hätte Hollywood ihm zu Füßen gelegen.

Mit seinen einssiebenundsechzig war er gerade mal einen Zentimeter größer als das Mindestmaß, das unser Bundesland für Polizisten vorschreibt und damit fünf Zentimeter länger als ich mit meiner Mindestgröße für Polizistinnen.

„Willkommen in der Heimat“, sagte Marc, wobei sich ein Lächeln, charmant wie in Kindertagen, auf seine Lippen stahl. Er reichte mir seine sehnige Hand und wir sahen uns minutenlang wie verzaubert an, wobei ich inständig hoffte, ihn niemals wieder aus den Augen zu verlieren.
Ich musste mich enorm zusammenreißen, um Zucht und Ordnung in meine wirren Gedanken zu bringen. Halte die Augen offen, sieh dir alles ganz genau an und vergiss die Liebe, beschwor ich mich und forschte nach dem Leichnam. Der Tatort verrät eine Menge, müssen Sie wissen ... sofern es sich denn zweifelsfrei um den Tatort und nicht etwa lediglich um den Fundort handelt. Ich wurde – trotz aller Ablenkung durch Marc – mehr und mehr den Gedanken nicht los, dass man mich keineswegs zum Tatort, sondern zum Fundort der Leiche gerufen hatte.

„Sie liegt dort hinten am Grabenrand. Du kennst sie“, sagte Marc mit belegter Stimme und holte tief Luft.
Er sah mich besorgt an.

„Wir kennen sie beide, Nora. Es ist Brenda. Brenda ist ...“

Noch bevor mich die Schreckensbotschaft im vollen Maße erreicht hatte, zerriss ein ohrenbetäubender Glockenton die Luft, und ich zuckte zusammen.

„Erste große Pause vor der dritten Stunde, wahrscheinlich Mathe“, grinste Marc diabolisch, bevor er sofort wieder ernst wurde.
„Unser ehemaliges Lieblingsfach, weißt du noch ...“
Er sah mich beschwörend an, wie ich aus den Augenwinkeln zu erkennen glaubte, war jedoch mit meinen Gedanken weit fort und bewegte mich mit langsamen Schritten auf das Opfer zu. Für den Bruchteil einer Sekunde war mir zumute, als träumte ich das Schreckliche nur: das hohe alte Gras, die todkranken Bäume, Marc ... nein, Marc war nicht schrecklich, schrecklich war lediglich der Umstand, der uns zusammengeführt hatte.

Marc ergriff meinen Arm, als befürchtete er, ich würde die wenigen Schritte bis zu Brendas Leichnam nicht schaffen.

„Damals haben wir doch immer vor Unterrichtsbeginn die Tafel ...“, begann er mit lebhafter Stimme auf mich einzureden; aber ich kannte diese Ablenkungsmanöver aus dem Psychologieunterricht und winkte ab.

„Hör bitte auf damit, Marc, bitte. Das heitert mich jetzt ganz gewiss nicht auf – im Gegenteil.“

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