Es ist plötzlich da. Es nimmt mir die Luft zum Lachen. Verdammt! Dabei lach ich so gern. Lass Melancholie und Trauer auf meinem Zwerchfell tanzen bis zum Vergessen. Die Uhr zeigt 23.45. Soeben bin ich auf meinem Weg ins Bad über den Hund gestolpert, der mir nun quiekend die schmerzende Pfote entgegenstreckt. Und doch lächeln mich bald darauf mit liebenswerter Versöhnungsbereitschaft zwei unternehmungslustige Hundeaugen an. Doch ich krieg‘s Lachen einfach nicht raus.
Es ist da.
Hell und gleißend durchzieht es mein Hirn. Ich bin machtlos. Schwer stütze ich mich aufs Waschbecken. Fühle die Unruhe in den Fingerspitzen. Während des Abschminkens streiche ich die Creme von der Stirnmitte nach außen, spüre den Schwung meiner Augenbrauen, die hohen Wangenknochen und wie ich mich langsam, unendlich langsam entspanne.
Doch da wühlt Es sich wie eine Krake aus grellem Licht in mein Gehirn. Mit feinen und feinsten Fangarmen umschlingt Es Nervenzelle um Nervenzelle. Stiehlt sich in die wundervolle Architektur des großen, grauen Schmetterlings.
Wie lange ich nun so dastand, bewegungslos, die Hände auf den Schläfen, weiß ich nicht. Der Hund liegt inzwischen eingerollt auf der Badematte und schläft. Ich weiß, nur Ruhe und klare Überlegung können mir weiterhelfen.
Jetzt blinzelt mich der Hund an, erhebt sich, dehnt seinen Körper zu mir hin, um seine Schnauze in meine Hand zu bohren. Ich streichle seinen Kopf und beneide ihn um seine Sorglosigkeit.
Hätte ich Es nur einmal oder auch zweimal erlebt, hätte ich Es schon längst vergessen. Doch, wie’s der Teufel will, kommt Es in unregelmäßigen Abständen zu mir. Und natürlich in den unpassendsten Momenten.
„Du spinnst“, hatte Steffen geknurrt, als ich, während er mich küsste, schnaufte und das, was ich von ihm sehen konnte, anstarrte. Und dann sein weit aufgerissenes Auge, das, graublau und schmuddelig, zurückstarrte. Seine Zähne schlugen gegen meine, so dass er sich verschluckte und mit „Du spinnst“ von mir löste.
„Wieso passiert Dir das in so einem Moment?“
Wenn jemand wütend ist, so tönt seine Stimme unangenehm hart und sein Leib panzert sich mit Aggression.
Steffen türmte seinen athletischen Körper vor mir auf, gekonnt mit dem Bewusstsein dieser Muskelmänner, die, bevor sie sich auf der Bühne bewundern lassen, nochmal all ihre Konzentration auf ihre Kunstgestalt lenken.
Dann ließ er mich in der Dunkelheit an der Peripherie Mülheims einfach stehen. Er verschwand mit federnden Turnschuhschritten. Jedenfalls meldete er sich einige Tage später per Telefon. Wollte wissen, ob ich unbeschadet nach Hause gekommen sei. Wie’s mir nun geht und ob ich, na ja, wie drückte er sich aus? Ob ich immer noch indisponiert sei.
Indisponiert, das war Steffens Erklärung für Es.
Dann tauchte Es wieder auf, als ich mit Franz im Kino, natürlich in der Loge und eng umschlungen, den Film „Radio Days“ sah. Franz musste bemerkt haben, wie ich steif wurde. Ich saß wie ein Stockschirm neben ihm und schnappte nach Luft. Franz streichelte meine Hand, der Lautsprecher stieß die Musik in den Raum. Und als wir aufstanden, uns an den Leuten vorbeiquetschten mit Pardon und Pardon, da wurde die Musik etwas leiser. Franz zog mich aus der Dunkelheit in den Vorraum des Kinos. Und jetzt wäre ich gern wieder rein zu der Musik und der großen Leinwand.
Franz, in seinem Nadelstreifenanzug mit dem gepflegten Bärtchen und mit dem gepflegten Haarschnitt, der es verstand gut zu riechen und zu leben, der sagte nicht „Du spinnst.“
„Bitte, geh zum Arzt.“
Er drückte meinen Arm und war beflissen lieb an diesem Abend. Doch seitdem kein Telefonat, kein Brief, kein Lebenszeichen von Franz.
Wie ich Es schon verflucht habe.
Wenn man den Feind beobachtet, lernt man seine Verhaltensweisen kennen und einschätzen. Ich habe Es beobachtet. Es kommt vorwiegend, wenn ich glücklich bin.
Na ja, sagen Sie nicht, dass Es sich selten blicken lässt. Mir reicht’s.
So hat Es auch den Bernd vertrieben. Bernd, den ich so sehr mochte, den ich so sehr schätzte. Ein Ritter, der Es zu bekämpfen versuchte, ohne Es erklären oder erfassen zu können.
„Du, mach Dir’s Leben nicht so schwer“, sagte Bernd. „Ein bisschen mehr Leichtigkeit würde Dir guttun.“
„Ich wünsche mir nichts mehr, als das“, stimmte ich zu.
Es war in einer jener Nächte, in denen die Stellung der Gestirne im Betrachter einen Wortreigen reinster Poesie auslöst. Und dann der Geruch von atmendem Laub vermengt mit dem Geruch von atmender Haut. Dazu ein Summen und Surren in der Luft, dass man glauben konnte, der Sommer ginge direkt durch einen hindurch, ins Erdreich, und wieder hinaus in diese explosive Mittsommernacht. Und wenn da nicht der andere Körper mit seiner festen Ebenmäßigkeit und seinem beharrlichen Zauber gewesen wäre, dann hätte das Fließen von Geschlecht zu Geschlecht mit seiner Dynamik und Brisanz nicht stattgefunden. Dann hätte ich nicht den Boden, das Gras, das Moos und die vielen winzigen Steinchen unter meinem Rücken gefühlt, verstärkt durch das Gewicht des Körpers darüber. Und atemloses Flüstern, Liebkosen der Stimmen. So prall der Sommer, so prall die Nacht.
Da!
Es schoss wie immer, mitten ins Hirn.
Und jäh die Umwandlung.
Die Luft plötzlich zum Ersticken dick, und das Summen und Surren führte geradewegs in den Wahnsinn.
„Du erdrückst mich“, stöhnte ich und stieß Bernd mit aller Kraft von mir weg.
Ich muss mir dann, so jedenfalls behauptete Bernd, einige Minuten den Kopf gehalten und ihn angestarrt haben, als sei er ein Ungeheuer.
„Ich muss so sehr froh gewesen sein, sonst wäre mir das nicht passiert“, erklärte ich. „Wenn ich Es nicht mit diesem verdammt schönen Gefühl herausgefordert hätte, würde Es keine Chance gehabt haben“, sinnierte ich weiter.
Von der Genialität zum Irrsinn oder vom Himmel zur Hölle braucht’s nur ein winziges Schrittchen.
„Ach, könntest Du Dich jetzt sehen. Dein Haar schimmert, als würde es phosphoreszieren. Als seien geheimnisvolle Strahlen in Dich eingedrungen. Bitte versuche Es zu vertreiben. Ich helf‘ Dir dabei.“
Bernd massierte sanft meinen Kopf, summte dabei einen Beatlesong. Und ich mochte seinen schmalen Mund, und ich mochte alles an ihm, denn sein schmaler Körper war für mich der Ausdruck für hohe Sensibilität.
„I get high with a little help from my friends”, sang er in mich hinein, und ein Echo von Zuwendung kam aus mir heraus.
„Ich sage Dir, Ortswechsel hilft immer. Komm, wir verreisen“, bat Bernd.
Manchmal lassen sich kurzfristige Entschlüsse so rasch verwirklichen, dass dabei das Herz zu rasen beginnt und sich der Magen unangenehm bemerkbar macht.
Vom Norden Mülheims auf die Autobahn in Richtung Norden und immerzu gen Norden. Hinter uns die graue Industrieglocke, die das Ruhrgebiet überzieht und sich manchmal im Widerschein der Hochofenglut auflädt, sich zuckend öffnet über dem Horizont und hier und dort eine Ahnung wachsen lässt von der klaren unendlichen Bläue dahinter. Dann das Meer und die gedämpfte Sonne des Nordens und Ferien mit Bernd, herrje, wie soll ich das beschreiben, ohne kitschig zu werden?
Es sind jetzt fünf Minuten vergangen, also ist’s 23.50 Uhr.
Mein Hund hat müde Augen.
„Ich werde ihn vermissen“, sagte er und deutete auf den Hund.
„Und Dich auch“, flüsterte er. „Aber versteh mich bitte, ich halte Es nicht aus. Es macht mir Angst. Und wer will, wenn er nicht muss, mit dieser Angst leben?“
„Ich bewundere Deine Fähigkeit, Dich vor Es zu schützen. Du lässt Es nicht an Dich heran. Wie machst Du das? Mit Dummheit und Oberflächlichkeit arbeitest Du doch nicht. Ist es die Angst vor der Angst, die Dich Es verdrängen lässt?“
Bernd, dessen Augen den Glanz einbüßten und dessen Gestalt so zerbrechlich erschien, Bernd, dessen Abschied die Flucht ins Leben war. Ich weiß, wenn Es mich vielleicht im nächsten Moment, um 24.00 Uhr, nochmal aufsucht, dann wird Es heller sein als alles Licht, das jemals auf meine Netzhaut traf, und dann wird Es sich in finsterste Dunkelheit auflösen. Und ich hoffe dem großen Schmerz durch rechtzeitig eintretende Ohnmacht zu entgehen. Ich weiß Es nicht zu besiegen.
Wenn Es Gestalt annimmt…
Es erzeugt Angst. Es weckt die Trauer.
Es ist gleißend und hell – the absolute state of hell.
"Bolero und Peitsche" - Kurzgeschichten 1990