Fortsetzung vom 13.11.2016 - Im Dickicht der Zeichen - Nora Meranes erster Fall; ein Krimi

Bild zeigt Annelie Kelch
von Annelie Kelch

„Der Verwesungsgrad ist minimal, Nora“, sagte Mark, während wir nebeneinander durch das hohe Gras stapften.
„Sie ist keinesfalls länger als achtundvierzig Stunden tot. Kaum Leichenflecken, keine Fliegen, nichts, was auf eine längere Todeszeit schließen lässt.
Sie lag im Graben, als der Zeuge Kollberg sie fand, und der war ziemlich voll, der Graben natürlich, Nora, weil es letzte Nacht und in den Nächten davor wie aus Eimern geschüttet hat. Daher rühren auch die vielen Pfützen in der Dunkelkammer. Ich schätze, dass du ...“

Marc redete wie ein Wasserfall, als wollte er verhindern, dass ich zur Besinnung käme. Ich riss mich zusammen, gab mir redliche Mühe ihm zuzuhören, alles in mich aufzunehmen, zu verstehen, zu analysieren … vergeblich.

Dort hinten liegt Brenda, dachte ich und konnte es noch immer nicht glauben. Brenda, die stets Benachteiligte, Zielscheibe jedweden Spotts - und einmal, das würde ich mir nie im Leben verzeihen, einmal hatte auch ich sie verhöhnt, einmal und dann nie wieder. Ich weiß nicht, ob Brenda das überhaupt mitbekommen hat. Wenn ja, ließ sie sich mir gegenüber nie etwas anmerken. Es war nur eine kleine, leise, unschöne Bemerkung, die ich im Beisein einer Klassenkameradin über sie fallen ließ, weil ich mich über sie geärgert hatte. Ich habe mich danach sehr geschämt und unendlich elend gefühlt; aber seither stand sie unter meinem Schutz, und war ich davor eher schüchtern und zurückhaltend gewesen, so ließ ich – zumindest, was Brenda betraf – nicht länger mit mir spaßen.

Ja, sie lag dort hinten, wenn Marc es sagte, würde es wohl zutreffen, und ich fürchtete mich vor ihrem Leichnam.
Brenda lag dort hinten im Dickicht – Brenda, die mir vor drei Monaten noch eine Postkarte zum Geburtstag geschickt hatte.
Sie hatten Brenda aus dem Graben gezogen und in das hohe Gras gelegt. Marc war fast drei Jahre mit ihr in dieselbe Klasse gegangen, ich noch um einige Jährchen länger.
Soweit ich unterrichtet war, hatte sich Marc nie über Brenda lustig gemacht. Ich wunderte mich zwar darüber immer ein wenig, weil er sonst nicht gerade zimperlich mit Äußerungen über bestimmte Mädchen war; es freute mich jedoch auch, weil sich über Brenda ohnehin schon genug Klassenkameraden mokierten – über ihre Figur, ihre Kleidung, ihre Frisur und nicht zuletzt über ihr - zugegebenermaßen - oft irritierendes Verhalten. Brenda war nicht von dieser Welt – ebenso wenig wie ich, aber anders, auffälliger ...

„Ich werde herausfinden, wer dich auf dem Gewissen hat, Brenda. Verlass dich drauf“, dachte ich.
„Wir“, sagte Marc, „wir werden herausfinden, wer sie umgebracht hat, Nora“, Ich hatte meine Gedanken offenbar laut ausgesprochen, ohne mich reden gehört zu haben. Das war kein gutes Omen.

Brendas Leiche lag unter einem Apfelbaum neben dem Graben. Auf ihrem blassen Gesicht lag ein Ausdruck, den man nicht ohne weiteres als „qualvoll“ abtun konnte; es lag noch etwas anderes darin, etwas Abwehrendes und zugleich Wehmütiges - als habe sie während des Sterbens geahnt, was sie Marc und mir mit ihrem Tod antat, und das war, ungeachtet der Tatsache, dass sich unsere Freundschaft seit Jahren auf Geburtstagsgrüße beschränkte, berechtigt; denn es war in den letzten Jahren kein Tag vergangen, an dem ich nicht an sie gedacht hätte, und mehrmals war ich drauf und dran gewesen, die paar Kilometer nach Wasserburg zu fahren, um sie endlich einmal wiederzusehen.
Ich wollte Marc fragen, wann er Brenda zuletzt lebend gesehen habe. Schließlich hatte sie bis zu ihrem Tod in Wasserburg gelebt und musste Marc zwangsläufig gelegentlich über den Weg gelaufen sein, aber ich brachte keinen Ton heraus. Brendas Gesicht ließ mich nicht los.
Sie war alles andere als friedlich gestorben, obwohl auf den ersten Blick keine Gewaltmerkmale an ihrem Körper zu erkennen waren. Ihre Lider waren bläulich, die Haut stark verschrumpelt. Vermutlich hatte sie die halbe Nacht über im Wasser gelegen.
Fortsetzung folgt.

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