Apropos: Der Russe

Bild von Dieter J Baumgart
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Anmerkungen zum Umgang mit der deutschen Sprache

Der Russe stand im September 1944 vor Königsberg.
Ein russischer Offizier teilte zwei Jahre später in einem Eisenbahnabteil der ehemaligen Reichsbahn auf der Fahrt von Burg (Sachsen) nach Berlin sein Brot mit uns Kindern.
„Scheiß wojna“ sagte er mit Tränen in den Augen. Derselbe Russe, der vor Königsberg stand? Nein, denn „den“ Russen gibt es nicht. Es gibt ihn ebensowenig wie „den“ Deutschen, „den“ Türken, „den“ Indianer und all die anderen Angehörigen fremder Völker. Je weiter sie entfernt sind, um so eher werden sie auf ein Personalpronomen reduziert. Entsprechend verblaßt auch jedwede Anteilnahme. Bei Urlaubsreisen mutieren sie zur fremdländischen Kulisse, ihre Sitten und Gebräuche interessieren nur per Kamera, Rücksichtnahme bleibt ein Fremdwort.
Sind wir alle so? Nein, natürlich nicht. Eher Wenige, aber diese Wenigen prägen das Bild „des“ Deutschen im Ausland. Das war schon vor hundert Jahren so. Völkerkunde beschränkte sich zu Kaisers Zeiten in den Grundschulen auf die Kolonien (wo kommen die Bananen her?) und mutierte in der NS-Zeit zur Rassenkunde inklusive aller verfügbaren Stereotype. Von Verständnis für und Achtung vor Menschen in fremden Ländern war und ist kaum die Rede. Das funktioniert ja nicht einmal im eigenen Land. Warum? Weil die Menge an Wissen, die nach den unterschiedlichen Ansichten von 16 Kultusministerien schon in den Grundschulen vermittelt werden soll, es nicht zuläßt, auch noch Grundlagen für den Umgang mit anderen Menschen zu legen. Ausnahmen bestätigen da nur die Regel. Wie auch immer die Problematik gesehen wird, das deutsche Bildungssystem basiert vornehmlich auf der Anhäufung von theoretischem Wissen, um vorgegebene Karriereziele sicher zu erreichen. Erfolg um jeden Preis. Da bleibt die Menschlichkeit schon mal auf der Strecke.

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