Stapel.

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Sie sassen am ovalen Tisch im neu eingerichteten Sitzungszimmer, der Geruch nach Farbe stieg ihm in die Nase. Er stellte sich vor, wie die giftigen Dämpfe in ihn hineinkriechen würden, sich in ihm ausbreiten und ihn vernichten. Nicht, dass ihm die Vorstellung Angst machte, nicht mehr zu leben, nein. Jedoch sollte dies nicht auf diese Weise geschehen, nicht in diesem Raum mit den eleganten, schweren Sesseln, die im neuen dunkelblauen Teppich versanken und auf denen man nicht anders als kerzengerade sitzen konnte, die man nicht unter den Tisch schieben, sondern hochheben musste, damit sie ordentlich, symmetrisch angeordnet, ihren Platz bekamen. Nicht hier vor den Augen Bösigers und seiner Sekretärin, die ihm, perfekt gestylt, mit manikürten, goldberingten Händen, ein Glas Wasser reichte. Er solle aber auf die neue Tischplatte achtgeben. Sie habe zwar ein Spezialpflegemittel dafür, es sei aber nicht nötig, dass sie dieses ausgerechnet heute zum ersten Mal anwenden müsse. Wobei sie vorwurfsvoll auf seine, zitternden Hände schaute. Er dachte daran, wie ihn seine Mutter, als er ein kleiner Junge war, genau so angeschaut hatte: die Augenbrauen hochgezogen, der Blick kühl, die Lippen zusammengepresst, den rechten Zeigefinger erhoben. Sie hatte ihn häufig darauf hingewiesen, dass er sehr, sie könne sich nicht erklären, von wem er das habe, sehr ungeschickt sei. Worauf ihm in regelmässigen Abständen die Milchtasse aus der Hand rutschte, er stolperte und sich dabei die Knie aufschlug, mit dem Fahrrad stürzte oder mit älteren Damen zusammenstiess.
Ich habe Sie etwas gefragt, die tiefe Stimme Bösigers holte ihn zurück, zurück in diesen kühlen, giftdampferfüllten Raum. Ob er das Fenster öffnen könne, er brauche frische Luft. Die Frage seines Chefs hatte er nicht gehört. Ob er sie wiederholen könne? Die Sekretärin schaute erst kopfschüttelnd auf ihre Hände, drehte an ihren Ringen, bevor sie sich zu Bösiger neigte und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Er konnte nichts verstehen, hatte Angst, keine Luft zu bekommen.
Ob er das Fenster jetzt öffnen könne, kam es mit heiserer, kaum hörbarer Stimme aus seinem Mund. Die Sekretärin erhob sich von ihrem Sessel und öffnete das Fenster ein wenig, bevor sie wieder Platz nahm und eine neue Seite ihres Notizblockes bereitlegte. Bösiger wiederholte seine Frage: was er sich dabei gedacht habe? Er, Bösiger, habe ihn immer unterstützt, damals, habe Verständnis für seine ungenügenden Leistungen gezeigt. Aber das sei jetzt einfach genug, er sei zu weit gegangen, das könne er nicht mehr tolerieren.
Er konnte nicht antworten, der Schweiss lief ihm in Bächen den Rücken hinunter, Salzbäche, die in seine Hose vordrangen und womöglich das schwarze Sesselpolster durchnässen würden. Seine Hände begannen stärker zu zittern, er konnte nicht mehr klar denken, in seinem Körper war nichts ausser einem riesigen Druck. Ein Druck, der ihn nicht schlafen liess, ihn appetitlos und zum Nichts gemacht hatte. Seine Tage bestanden aus Warten: warten in schlafloser Nacht auf einen Morgen, der seinen Namen verdient hätte, einen Morgen, der ihm etwas Leben einfliessen würde. Die Hoffnung darauf, dass das jemals eintreten würde, hatte er aufgegeben. Er legte sich abends nach der Arbeit nicht mehr in sein grosses Designerbett im perfekt eingerichteten Schlafzimmer, das Fenster hatte er schon lange nicht mehr geöffnet, die Bettwäsche nicht gewechselt und auf den Möbeln lag eine dicke Staubschicht. Sie hatte sich immer um das alles gekümmert, es hatte ihn gefreut, wenn sie neue Bettwäsche gekauft hatte, dazu die passende Unterwäsche, Er hatte die Nächte mit ihr zusammen geliebt, sich stark und begehrenswert gefühlt.
Wieder durchdrang Bösigers Stimme seinen Gedankennebel, bildete er sich das nur ein, oder war Bösiger ungeduldig geworden? Er versuchte, sein Glas hochzuheben und einen Schluck Wasser zu trinken, dabei verschüttete er ein wenig davon, es tropfte auf seine Hose, die ihm viel zu weit geworden war. Auch das Hemd schien nicht mehr zu passen, es hing an seinen knochigen Schultern, er hatte es verschoben zugeknöpft und der Baumwollstoff war stark zerknittert. Er trug es seit Tagen, auch nach der Arbeit, wenn er sich zuhause auf den Küchenboden legte und versuchte, den Druck in seinem Inneren auszuhalten, auszuhalten und zu warten, bis es Morgen wurde. Noch schaffte er es, seinen letzten Rest an Lebensenergie zu bündeln und sich ins Büro zu schleppen.
Bösiger klopfte ungeduldig auf den Tisch, er wolle jetzt eine Antwort, wolle wissen, wie es zu den verheerenden Stapeln gekommen sei.
Er setzte sich jeden Morgen ins Büro, starrte auf den Bildschirm, unfähig, zu denken oder zu handeln. Zwischendurch legte er den Kopf auf den Tisch, die Augen geöffnet, ins Nichts starrend. Die Stapel wurden von Tag zu Tag höher, bis sie ihm die Sicht auf den Kalender an der Wand über seinem Schreibtisch verdeckten. Ein Stapel mit Post und Aufträgen, die er an geraden Daten bekam, ein Stapel mit allem, was an ungeraden Daten hereinkam. Dieser Stapel war etwas höher, wobei ihm das nicht auffiel, erst an diesem Morgen. Er war mehr als eine Stunde zu spät zur Arbeit erschienen, da er es kaum geschafft hatte, sich vom Boden zu erheben und ins Auto zu steigen. Er roch nach Schweiss und seine Haare wirkten ungepflegt. Als er im Vorbeigehen einen Blick in den Spiegel in der Garderobe warf, erblickte er eine ihm fremde Person, bleich, mit schwarzen Augenringen. Er erkannte diese Person nicht, spürte keine Verbindung zu sich selber. Er fühlte sich mehr tot als lebendig.
Bösiger und seine Sekretärin waren aufgestanden, er hatte ihre erbosten Stimmen gehört, jedoch nicht verstanden, was sie ihm sagen wollten. Sie zeigten zur Türe.
Er konnte nicht mehr, er hatte den letzten Lebensrest verloren und war nicht mehr fähig, den Kopf zwischen den Stapeln auf den Schreibtisch zu legen. Er versuchte, sich auf seinen Bürostuhl zu setzen, die Kraft fehlte ihm dazu, er rutschte auf den Boden, wobei er an den Schreibtisch stiess und die Stapel sich in Bewegung setzten, die Papiere glitten zu Boden, genauso, wie er selber, und blieben liegen.
Bösiger wurde nochmals deutlich, es sei Schluss, endgültig, er solle seine Sachen packen und verschwinden. Ob er auch nur einmal an die Firma gedacht habe, und daran, wie es ausgesehen habe, als er, Bösiger, mit einem neuen Kunden sein Büro betreten wollte und sie dabei auf am Boden liegende Papierberge und ihn, genauso am Boden liegend, ungepflegt und schlampig, getroffen seien? Eine Katastrophe sei das, der Kunde habe sich zurückgezogen, er werde es sich nochmals überlegen, ob das die richtige Firma für seinen Auftrag sei, habe er gesagt.
Er hörte nur das Wort verschwinden, alles andere drang nicht in seine Gedankenwelt. Sie war verschwunden, vor genau drei Monaten, nach einer gemeinsamen Nacht, war gegangen und nicht mehr zurückgekommen. Er hatte alles versucht, doch sie hatte ihm jeglichen Kontakt verboten, ihre Schwester hatte ihm das mitgeteilt, und wenn er sich nicht daran halte, werde sie die Polizei einschalten. Er vermisste ihr Lachen, ihre gemeinsamen Nächte, ihren wundervollen Körper und ihren Sinn für schöne Dinge unsäglich. Anfangs dachte er, er werde das schon schaffen, hatte sich in die Arbeit gestürzt, hatte Tag und Nacht gearbeitet, Sport getrieben und in den wenigen ruhigen Momenten, denen er nicht ausweichen konnte, war ziellos durch die Stadt getigert. Er wusste nicht, wann genau die Aktivität, die er äusserlich gelebt hatte, sein Inneres zu zerstören begann. Seine trauernde Seele mochte nicht mit dem von ihm gewählten Tempo mithalten und zog sich zurück. Er spürte, wie er abstürzte und hinunterglitt in ein tiefes Loch, wie er in einen unerträglichen Zustand geriet.
Bösiger klopfte ihm auf die Schulter, die Sekretärin polierte den Tisch. Es werde alles wieder gut, nur, hier, in dieser Firma, habe es keinen Platz für Menschen, wie er einer geworden sei.
Er hatte nie um sie geweint, er war der Trauer und den Tränen entwischt. Doch jetzt, verschwitzt und zitternd auf dem Sessel sitzend, schien sich etwas in seinem Inneren zu lösen. Es machte ihm nichts aus, seine Stelle zu verlieren, es war ihm gleichgültig, wenn nur sie wieder da wäre, ihn in den Arm nehmen würde. Er konnte sich gut daran erinnern, wie ihr Parfum gerochen hatte und wie zärtlich ihre Berührungen waren.
Er versuchte aufzustehen, sich von diesem schweren, edlen, teppichversunkenen Sessel zu erheben. Es gelang ihm nicht, stattdessen spürte er Tränen aufsteigen, spürte, wie seine Augen feucht wurden, wie sich die einzelnen Tropfen verbanden und zu Bächen wurden, die ihm übers Gesicht liefen, auf sein Hemd tropften und drohten, ihn von innen her zu überschwemmen. Er wurde von Schluchzern geschüttelt und weinte, bis er davon noch schwächer wurde. Er fühlte sich wie ein zerfliessendes Nichts, das sich nur noch auf den Boden legen konnte, gekrümmt im Teppich liegend, schluchzend und weinend.
Später, als er an einem hellen, freundlichen Ort wieder zu sich kam, erzählte man ihm, dass Bösiger einen Arzt gerufen habe und dieser ihn in die Klinik einwies.
Jetzt, einige Wochen später schienen Therapie und Medikamente langsam zu wirken. Er erholte sich und es gelang ihm, sich zu spüren, zu schlafen und zu essen.
Heute Nachmittag würde er seit langem zum ersten Mal seine Wohnung betreten, zusammen mit einem Therapeuten würde er Kleider und Bücher holen, sowie seine Fotoausrüstung. Er stellte sich vor, wie er das Schlafzimmer betreten, das Fenster öffnen und das Bett frisch beziehen würde. Die weisse Bettwäsche mit den gelben Blumen würde am besten zu diesem Frühlingstag passen, er würde sich Zeit dafür nehmen, würde zwischendurch ans offene Fenster stehen und tief durchatmen. Auch die restlichen Räume würde er vom abgestandenen Tief der letzten Monate befreien, würde aufräumen und abstauben, dazu Musik hören.
Diese Vorstellung entlockte ihm ein leises Lächeln. Er ging in den Klinikpark, nahm einen der hellgrünen, leichten Stühle, stelle ihn zwischen die beiden grossen Blumenbeete, in denen es gelb und lilafarben blühte, er hatte keine Ahnung, wie die Blumen hiessen, die Farben gefielen ihm trotzdem ausserordentlich gut, setzte sich entspannt, die Beine von sich gestreckt, auf den Stuhl, schloss die Augen, lauschte dem Vogelgezwitscher und roch die zarte, feine Frühlingsluft.

Kommentare

28. Aug 2015

Lesenswert? Unbedingt!
Mein eigener, hochsensibler Arbeitgeber, als Sozialarbeiter in einer Suchteinrichtung höchst qualifiziert, empfing mich damals, nach dem tragischen Sterben meines Mannes, in einem Vier-Augen-Gespräch mit der Aufforderung zur Unterschriftsleistung unter eine "Vereinbarung", mit der ich mich verbindlich verpflichten sollte, nicht vor Klienten zu weinen und psychologische Hilfe - so gewünscht - nicht vom "eigenen" Team zu erwarten (was mir aus ganz anderen Gründen sowieso niemals durch den Kopf gegangen wäre). Auch eine Anwesenheit ohne Ausfälle wurde eingefordert und moniert, dass ich durch die Pflege meines Mannes "das Team im Stich gelassen" hätte, das sich dadurch sehr verletzt gefühlt habe.
Zur Beerdigung hatte ich noch eine salbungsvolle Trauerkarte und für das Grab ein Gesteck (ohne Schleife) bekommen.
Gott hat viel Kreaturen in seinem Zoo ...

29. Aug 2015

Das überzeugt - und es erschreckt:
Weil selber Stapel man entdeckt...

LG Axel

30. Aug 2015

Ja in der Tat erschreckend! Danke dafür! LG!

30. Aug 2015

Vielen Dank für die Erzählung ! Was ist das blos mit uns Menschen ...
> A Mensch möcht i bleibn < hat W.Ambros einmal gesungen . Fragt sich was ist Mensch?
Liebe Grüße
Eva