Ein kurzfristig einberufener Krankenhausaufenthalt. Irgendwelche Magen-Darm Probleme, nichts Beunruhigendes. Wie das halt bei älteren Menschen so ist.
Mein Vater war immer da und es gab keinen Zweifel daran, dass er immer da sein würde. Er hat mich vom Tag meiner Geburt an begleitet und wahrscheinlich hat er sich kaum mit einem Menschen mehr beschäftigt als mit mir.
Ja natürlich, Sie haben Recht, vermutlich genau so viel oder mehr mit meiner älteren Schwester, sie hat er vermutlich mehr geliebt als mich.
Ich war Peter, das unbekannte Wesen, eine Persönlichkeit, die er nie wirklich verstehen konnte, weil ich so anders war. Ich war ihm fremd und er mir auch. Bis auf wenige Momente. Aber trotzdem war er immer da. Er hat mich gehalten, fotografiert, er hat mich gewickelt, den Hintern sauber gemacht, er hat mir die Welt erklärt und die Menschen, er hat mir die Neugier gelehrt und den Zweifel, er hat mich gequält mit Baukästen und viel schlimmer später mit Mathematik. Er war die Konstante, die mich liebt, eine Konstante, die ich bewunderte und an der ich mich rieb. Ich habe nie erwogen, dass er einmal nicht da sein könnte. Er hat mich kritisiert und provoziert und protegiert. Er hat mir Türen geöffnet, durch die ich nicht gehen wollte. Er verzweifelte an mir, blieb aber an meiner Seite. Er war so hellsichtig mehr zu sehen, als ich ahnte. Er trauerte als klar war, dass ich ihm nie eine Schwiegertochter ins Haus führen würde. Er bewunderte mich, später, für meine Emotionalität eine Eigenschaft, die er nicht hatte. Er akzeptierte mich, obwohl er mich nie verstand, obwohl er wusste, dass ich seinen Traum, eine große bürgerliche Familie gegründet zu haben, nie erfüllen könnte.
Ein Drama! Nicht spektakulär, eher gewöhnlich. Tragisch, aber normal. Er ertrug es mit heroischem Stoizismus. Den Marc Aurel las er spät.
Das kleine Kind in mir hat ihn dagegen bewundert und geliebt. Stark und allwissend war er und klug und beschützend. Ich hielt ihn vermutlich für den großartigsten Vater, den die Welt jemals hervorgebracht hat. So absurd, so normal.
Diese uneingeschränkte Bewunderung geht selbst bei Diktatoren nicht auf Dauer gut. Irgendwann kommt die Ernüchterung, diese Ernüchterung nennt man bei Vater und Sohn Pubertät und wie bei Diktatoren macht sich der ehemalige Bewunderer daran, die väterlichen Denkmäler zu schleifen. Mein Vater, der mir den Zweifel gelehrt hatte, wurde deren erstes Opfer. Heute weiß ich, dass dieser Kampf, ein Kampf gegen mich selbst, aussichtlos ist. Aber in der Jugend ist man nun einmal bereit, aussichtlose Schlachten zu schlagen.
Der Kampf dauerte Jahrzehnte, auch wenn der Widerstand, je älter wir wurden, auf beiden Seiten abnahm. Jahre vor seinem Tod wurde dies eindrücklich deutlich. Ich war zu Besuch bei meinen Eltern und übernachtete auch dort. Solche Abende nahmen einen immer gleichen Verlauf. Gemeinsames Abendessen, danach ein wenig Geplauder, Tagesschau, irgendein Fernsehfilm, kurz nach 9 Uhr ging meine Mutter ins Bett. Ich verbrachte dann aus Höflichkeit noch etwas Zeit mit meinem Vater, war erleichtert, wenn der Fernseher lief und wir nicht reden mussten, und ging schließlich, ebenfalls früh, ins Bett.
Dieser Abend aber war anders. Wir sahen kein Fern. Vielleicht weil nichts Vernünftiges lief und redeten, vermutlich – wie es alte Menschen gerne tun – über vergangene Zeiten. Ich kann Ihnen nicht sagen, was an diesem Abend anders war, aber es war etwas anders. Ich spürte plötzlich eine unbekannte Nähe zu meinem Vater und den ungewohnten Wunsch mit ihm allein sein zu wollen. Meine Mutter ging aber ungewohnter Weise nicht ins Bett. Es wurde 9 Uhr, es wurde 10 Uhr, es wurde halb 11, sie blieb. Der Wunsch, dass sie gehen möge, wurde zur Ungeduld. Vermutlich konnte sie nicht gehen, weil sie spürte, dass ich sie nicht mehr dabei haben wollte. Meine Mutter hat sehr feine Sensoren. Irgendwann endlich ließ sie meinen Vater und mich allein und wir konnten reden, wie wir noch nie geredet hatten. Wir redeten und redeten. Worüber kann ich Ihnen nicht mehr genau sagen, über Gott und die Welt, über uns und die Kindheit und das Leben. Das Gespräch hatte eine Leichtigkeit und Vertrautheit und Innigkeit und Verbindlichkeit, wie ich es nie vorher und leider auch nachher nie wieder mit ihm hatte. Es war diese ungewöhnliche Atmosphäre zwischen uns, die mir so stark in Erinnerung blieb, eine nie dagewesene Vertrautheit, als wäre ich sein Leben lang sein bester Freund gewesen. Und wie es vertraute Freunde tun, sprachen wir auch über die Liebe und die Ehe und andeutungsweise sogar über Sexualität. In diesem Zusammenhang fragte ich ihn plötzlich – und es hatte nichts mit Indiskretion oder moralischen Zeigefinger oder peinlicher Neugier zu tun, sondern es war eine selbstverständliche Frage unter engen Freunden: „Hast Du denn nie eine Affäre gehabt?“ und er antwortete ohne Zögern „Doch, natürlich.“
Mehr wollte ich nicht erfahren. Für einen winzigen Augenblick hatte sich eine Tür für uns geöffnet, die sich danach erneut für immer schloss. In einem Hollywoodmärchen wäre dies der große Wendepunkt, von dem an Vater und Sohn für den Rest ihres Lebens in inniger Verbundenheit beste Freunde wären. Leider schreibt Hollywood keine Drehbücher für das echte Leben. Wir beide hofften wohl, dass sich diese Vertrautheit bei weiteren Besuchen erneut einstellen würde. Das ist nie passiert. Leider. Dennoch, dies war einer der denkwürdigsten Momente mit meinem Vater. Die emotionale Offenheit war ungewöhnlich für ihn. Vielleicht war das der Beginn seines Sterbens, lange bevor es ausgesprochen wurde. Vielleicht wusste er damals schon um seine Krebserkrankung, vielleicht hat er es nur geahnt, weil ihn seine Kräfte dramatisch verließen. Ich weiß es nicht, es spielt auch keine Rolle.
Entschuldigen Sie, aber jetzt brauche ich einen Schnaps, vielleicht den Schnaps, den ich mit ihm nie getrunken habe. Ich habe immer Rotwein getrunken. Gerne hat er mir eine Flasche aufgemacht, aber die letzten Jahre hat er abends am liebsten einen Schnaps getrunken. Stoßen wir an auf unsere Väter. Seien Sie froh, dass Ihrer noch lebt. Ich habe spät begriffen, was er mir bedeutet.
Kommen wir zurück zum Sterben. Er war im Krankenhaus, nichts Dramatisches also. Ob ich ihn zufällig oder aus einer Vorahnung heraus besuchte, weiß ich nicht mehr. Er war jedenfalls guter Dinge, redete, lachte und sah ganz gut aus.
Warum ich ein Foto machte, obwohl ich sonst kaum fotografiere? Keine Ahnung. Wie sie auf dem Foto sehen, lacht er, er sieht ein wenig zerzauselt aus. Die Augen klar, wach und freundlich. Ein freundlicher älterer Herr, mein Vater.
Beruhigt und entspannt fuhr ich wieder nach Hause. Kurz darauf erreichte mich die Nachricht, dass er operiert werden müsse, eine diagnostische OP. Das klang nicht besonders beunruhigend. Ich bin medizinischer Laie. Am Tag der OP war ich bei einem Kunden und ich testete ein neues Verfahren. Eine SMS meiner Schwester erreichte mich mitten in der Arbeit, kurz und direkt. „Vater unheilbar krank, Lebenszeit nicht länger als 6 Monate, traurige Grüße“.
Was in mir passierte? Das kann man nicht beschreiben.
Ja, natürlich, Schock, Trauer, Unverständnis, aber es ist mehr. Es ist vielleicht am besten zu vergleichen mit der Geburt, dem Geburtsschock, der Kälte, die um einen herum ist, dieses plötzliche in die Welt geworfen werden. So ähnlich stelle ich mir das vor, plötzlich in diese Existenz geworfen zu werden. Diese Nachricht warf mich gewissermaßen ein zweites Mal in die unberechenbare, schutzlose Leere der Welt. Ja, das klingt merkwürdig, dass ein 55 Jahre alter, gestandener Mann, ein Mann, der festen Boden unter den Füßen hat, Erfolg, ein gutes Leben, dass er durch das Sterben seines Vaters noch einmal neu ins Sein geworfen wird.
Wie das zu erklären ist?
Ich habe nur eine plausible Erklärung: Plötzlich ist mein Vater nicht mehr da, plötzlich ist er, der Held, der mich als kleinen Jungen vor dem Ertrinken rettete, nicht mehr in der Lage, mich zu retten. Jetzt und erst jetzt musste ich erwachsen werden, verantwortlich für mein Leben, ohne dass mein Vater mir noch zur Seite stehen kann. Verstehen Sie? Mein Vater war die letzte Bastion, die letzte Rettung in der Not, sollte es einmal darauf ankommen. Natürlich wollte ich diese Bastion möglichst nie wieder betreten, aber ich wusste immer: Dort ist Schutz! Und diese Bastion, dieser Schutz brach mit dieser kurzen SMS zusammen.
Vielleicht habe ich nur mit diesem Hintergrund, mit diesem gefühlten Kokon der Sicherheit mein Leben aufbauen können. Dieser gefühlte Schutz hat mich stark gemacht, obwohl mein Vater tatsächlich längst kaum mehr in der Lage war, mich zu schützen. Dazu war er zu alt, zu schwach, aber ich hatte, so sagt man, glaube ich in der Technik, eine Rückfallposition.
Was mir damals aber noch nicht klar war, ist noch absonderlicher. Es ist ein wenig peinlich, denn es kann leicht missverstanden werden. Mein Vater beschützt mich auch heute noch.
Verstehen Sie mich nicht falsch, er sitzt nicht irgendwo im Himmel auf einer Wolke oder so was und passt auf mich auf, nein, ich bin Atheist, ich glaube nicht an ein Leben nach dem Tod. Trotzdem, mein Vater sorgt für mich. Ehrlich, mehrmals seitdem er tot ist, hatte ich das Gefühl, er läuft da oben im Himmel herum und schaut nach mir. Absurd natürlich, ich weiß, aber ich kann mich gegen dieses Gefühl nicht wehren. Ich bin überzeugt, dass es so ist, obwohl ich weiß, dass es falsch ist.
Verrückt, aber Überzeugungen wirken stärker als Wissen. Und es kommt noch krasser. Ich sollte es besser gar nicht erzählen, denn man kann es schwer verstehen. Mein Vater hat mich nach seinem Tod zweimal besucht.
Nur zweimal fragen Sie? Nein das haben Sie falsch verstanden. Nicht in meinen Gedanken, in meinen Gedanken ist er sehr oft. Da muss ich plötzlich an ihn denken, ohne Anlass, plötzlich ploppt er in meinem Kopf auf. Manchmal spreche ich dann auch mit ihm. Sage so etwas wie: „Ach Väterchen“. Väterchen habe ich ihn genannt, er mochte das.
Aber seine zwei ‚Besuche‘ war nicht ein ‚an ihn denken‘. Diese beiden Male war es anders, und ich kann es am besten mit den Worten beschreiben: Er war da.
Natürlich war er nicht da, aber es ist klar, dass er da war. Beide Male war ich allein, das erste Mal spät abends in meiner Wohnung, ich saß auf meinem Lieblingsplatz. Nur ein paar Kerzen brannten. Soweit passt alles zu einer Séance. Und dann war er da. Etwas von mir entfernt. Auf der anderen Seite des Raumes. Nein ich habe ihn nicht gesehen, aber irgendwie war er da. Er hat nichts gesagt, aber ich konnte ihm etwas sagen. Meine Dankbarkeit ausdrücken oder irgendwie so was.
Das zweite Mal war auf der Terrasse eines Hauses über der Bucht von St. Tropéz. Die Sonne schien, die anderen waren fortgefahren und plötzlich war er auf der anderen Seite der großen Terrasse. „Schön hier oder?“ konnte ich sagen und spürte seine Zustimmung und seinen Stolz.
Wenn Sie so etwas erleben, dann fällt es leicht, an ein Leben nach dem Tod zu glauben. Es ist eine einleuchtende und einfache Erklärung. Viel schwieriger als meine: Ich glaube nicht, dass es seine Anwesenheit ist, die ich spüre, es ist vielmehr das Gefühl, das er mir gab als ich ein kleines Kind war. Das Gefühl beschützt zu sein, das Gefühl, dass er für mich sorgen wird. Das Gefühl, dass er stolz ist. Dieses Gefühl trägt mich auch heute noch. Es ist in mir und dadurch entsteht dieser Eindruck. Leider ist das eine komplizierte Erklärung und sie erklärt auch nicht warum es plötzlich und unerwartet auftritt und sich auch nicht willentlich reproduzieren lässt. Viel einfacher ist die Erklärung, dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Sollten Sie, wie viele Naturwissenschaftler, der Überzeugung sein, dass die Theorie von Okhams Rasiermesser zutrifft, so ist meine Erklärung falsch und die vom Leben nach dem Tode richtig, es sei denn, Sie haben noch eine einfachere.
Nun, wie dem auch sei, ich bin abgeschweift und sollte zum Moment der Todesnachricht zurückkommen. Wie gesagt, war ich gerade beim Kunden, versuchte professionell meine Arbeit zu machen, jedoch auf einer bodenlosen Leere nach der SMS meiner Schwester. In meinem Leben habe ich schon einige schlechte Nachrichten erhalten und gelernt, trotzdem irgendwie Haltung zu bewahren. Warum sollte das in diesem Falle nicht funktionieren? Ich gab mein Bestes, jedenfalls dachte ich das. Wie ich lange Zeit später von meinem Kunden erfuhr, hatte meine Stimme schlagartig eine depressive Färbung angenommen und meine Körperhaltung hatte seine Spannung verloren. Das merkte ich selber nicht.
Die nächsten Stunden und Tage sind meiner Erinnerung verloren. Wie ich erfuhr, war mein Vater innerlich völlig vom Krebs zerfressen, nach einem langen Gespräch mit dem Chefarzt des katholischen Krankenhauses hatte er eine lebensverlängernde, aber qualvolle Chemotherapie abgelehnt und bereitete sich nun auf seinen Tod vor.