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Irgendwann fuhr ich los, mit dem Zug, zu meinen Eltern, zu meinem Elternhaus. Dort nun war meine Mutter allein, der Vater im Hospital. Pflege war angesagt. Wie? Wo? Wer? Alles plötzliche, offene Fragen, auf die ich keine Antwort wusste. Ein ebenso großes Problem wie mein Vater war meine Mutter. Sie konnte nicht in diesem Haus bleiben, das weit von all den Einrichtungen entfernt lag, die ein alter Mensch ohne Auto braucht: Supermarkt, Bäcker, Ärzte usw. Zudem war das Haus hochtechnisiert mit Alarmanlage, automatischen Rollläden, Hightech Heizung und anderen technischen Spielereien meines Vaters, die er zum Schluss wohl selber nicht mehr richtig durchschaute. Was also tun mit einer Mutter, die natürlich das Haus nicht verlassen wollte, dort aber nicht bleiben konnte? So viele Fragen und keine Antworten. Was tun während der Pflegephase? Wie sah es finanziell aus? Wie geht es meiner Mutter? Wird Sie verzweifeln?
Meine Erinnerung setzt wieder ein, als ich vor der Haustür dieses Elternhauses stand. Meine Mutter öffnet die Tür und ich umarme sie, lange, innig. Sie weint, ich nicht. Und dann: Zuhören den Worten der Mutter, vom Weinen unterbrochen. Zuhören. Zwischendurch trösten. Zuhören. Und immer diese Fragen im Kopf: Was tun? Und wie?
Für meine Mutter war das alles sehr wichtig. Sie konnte sich gehen lassen, während sie bei meinem Vater versuchte Haltung zu bewahren. So widmete ich ihr die ersten Stunden nach meiner Ankunft.
Und dann stand er bevor, der schwere Gang zu meinem Vater, morituri te salutant. Wie würde er sich verhalten, wie würde es ihm gehen? Wie nimmt er sein Schicksal auf? Was würde er mir sagen?
Das Krankenhaus, Schicksalsort, ein Klinkerbau des 19. Jahrhunderts, steingewordener Ausdruck von Menschlichkeit, Hoffnung der Kranken, aber nach wie vor ebenso ein Gebäude des Sterbens, der Hilflosigkeit, der Todesurteile. Daran wird auch ein immerwährender Fortschritt der Medizin, daran wird der Glaube des Menschen, den Tod eines Tages besiegen zu können, diese vermessene Hybris, nie etwas ändern. Genau das spürte ich, als ich die langen linoleumbedeckten Gänge entlangging, um ängstlich, herzklopfend dem Sterbenden gegenüber zu treten. Die Tür zum Einzelzimmer lindgrün, dämmerig das Licht dahinter.
Er begrüßt mich fast wie immer, nur die Augen sind anders. Nach innen gekehrt. Er steht von seinem Bett auf, zieht sich seinen Bademantel an und sagt das es nun soweit sei. Ich umarme ihn, die Tränen schießen mir in die Augen, und ich begreife zum ersten Mal in meinem Leben, wie wichtig mir mein Vater ist. Wir setzen uns, ich halte seine Hand. Wir reden, er, wie immer nüchtern, aber ich spüre seine Erregung.
Wenn Sie jetzt erwarten, dass ich Ihnen das Gespräch widergebe, dass wir führten, dieses so wichtige Gespräch, dann muss ich Sie enttäuschen. Ich weiß nicht mehr viel, einiges kann ich vermuten. So galt seine Sorge sicher meiner Mutter. Ich glaube, ich versprach ihm, dass ich mich um sie kümmern würde, dass er sich keine Sorgen machen muss. Selbstverständlich wollte ich ihm diese Last von den schmal gewordenen Schultern nehmen.
Geben Sie mir bitte jetzt einen Schnaps, denn was folgte, passt nicht zu mir, passt nicht zu meinem Vater und ist aus der Zeit gefallen. Die Szene passt in eine Zeit von vor 200 oder 500 oder 900 Jahren. Jahrhundertelang ist diese Geste aufgeladen worden mit Religiosität und Ehrfurcht und dem Glauben an das Jenseits, aufgeladen mit der Angst vor dem Tod, dem Wunsch nach göttlichem, väterlichem Beistand, vielen bewussten und unbewussten Sehnsüchten und Ängsten. In unserer so scheinbar rationalen, nüchternen, aufgeklärten Zeit wirkt sie dagegen antiquiert, fast irreal, aber sie brachte eine längst verstummte Saite in mir in Schwingung, und weil sie so uralte, tiefe Wurzeln hat, ist sie auch heute noch eine Geste unendlich, tröstender Menschlichkeit.
Vater und Sohn saßen einander auf zwei Stühlen gegenüber, wir redeten leise und die Dämmerung hüllte den kargen Raum in Trauer. Mein Vater hob an, und hatte sich seine Worte bestimmt lange überlegt: „Peter, mein Sohn, wir sind keine religiösen Menschen und wir glauben nicht an Gott, aber mein Vater, dein Großvater, berichtete mir von dem Tag, an dem seine Mutter starb. Er war zwölf Jahre alt. Sie rief ihn zu sich an ihr Sterbebett, er musste sich niederzuknieen und dann erteilte sie ihm ihren Segen. Dieser Segen, so sagte Dein Großvater, habe ihn sein Leben lang beschützt.“
Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Ich will jetzt keine große Zeremonie daraus machen, aber ich möchte Dich segnen. Fühle Dich hiermit gesegnet.“
Wir schwiegen.
Tränen rannen über mein Gesicht und ich stammelte „Danke“ oder etwas Ähnliches. Unendlich bewegt, nur noch Gefühl. Und dann sprach mein starker, nüchterner, so wenig sentimentaler Vater, leise mit sich brechender Stimme, „Hör bitte auf zu weinen, sonst fange ich auch noch an.“
Entschuldigen Sie, jetzt brauche ich ein Taschentuch.
Verstehen Sie jetzt mein Gefühl, dass mein Vater nach wie vor auf mich aufpasst? Sein Segen hat eine Wirkung, auch wenn diese Wirkung nur eine Einbildung ist.
Nach dieser Segnung verabschiedete ich mich, ließ ihn zurück in diesem traurigen Zimmer. Fuhr zurück. Jedenfalls versuchte ich zu fahren, denn es verschwamm alles vor meinen Augen, erst nachdem ich mich, am Straßenrand anhaltend, ein wenig beruhigt hatte, schlich ich, mehr als ich fuhr, zurück zu meiner Mutter.
Dort stellte ich mich erneut meiner Aufgabe: Zuhören, trösten, zuhören, in den Arm nehmen, zuhören, trösten usw. Für meine Mutter brach eine Welt zusammen. #
Wie die nächsten Tage verliefen, weiß ich nicht mehr wirklich. Gespräche mit Schwester und Schwager folgten: Was tun? Pflegeplatz? Häusliche Pflege? Hospiz? Was tun mit unserer Mutter?
Im Ort gab es das große Seniorenwohnheim, das sich meine Eltern schon einmal angeschaut hatten, aber natürlich konnten sie sich nie entscheiden dorthin zu gehen. Meine Schwester würde sich darum kümmern. Wir brauchten einen Pflegeplatz für meinen Vater und im Idealfall auch eine Wohnung für meine Mutter.
Vermutlich hielt ich in dieser Zeit meiner Mutter das Händchen. Fuhr sie ins Krankenhaus, kaufte mit ihr ein, brachte sie zum Arzt usw. usw. Auch hier habe ich Erinnerungslücken.
Die Besuche bei meinem Vater im Krankenhaus hatten etwas Bizarres an sich. Er verlangte nach seinem Laptop, einem Telefon, einem Internetzugang,
(c) Peter K. 2018