Der heilige Antonius und ich

Bild von Peter_Kleimeier
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Ich bin Atheist, aber ich wurde evangelisch getauft. Ich bin in den 60er Jahren in einer rein evangelischen Gegend aufgewachsen. Damals gab es so etwas noch. In dieser Gegend gab es nur einen Gott und der war evangelisch. Ich war sehr gläubig und liebte die Kirche und die Gottesdienste und die Orgel und den Gesang und das Gebet. „Lieber Gott mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm“ war mein Abendgebet, obwohl mir nicht ganz klar war, was fromm eigentlich bedeutet.
Als ich sieben Jahre alt war, zogen wir nach Köln um oder besser in ein kleines Dorf vor den Toren des heiligen, katholischen Köln.
An diesem Tag wurde ich Atheist.
Es war ein aufregender Tag, denn endlich sollte ich mein eigenes Zimmer im neuen Haus bekommen und das ist für einen siebenjährigen Jungen ein wichtiges Ereignis. Als wir an einem regnerischen Novembernachmittag mit unserem VW Käfer von der Autobahn abfuhren, dämmerte es. Die lange gerade Straße führte uns vorbei an trostlosen, abgeernteten Feldern. Als wir uns dem kleinen Dorf näherten, sagte mein Vater zu meiner Schwester und mir:
„Dies ist der Ort, wo wir zukünftig leben werden.“
Ich schaute neugierig, aber enttäuscht, auf eine wenig attraktive, dörfliche Idylle, als ich einen Kirchturm im Novembergrau erkannte.
„Und das ist unsere Kirche" plapperte ich, erleichtert darüber, etwas Vertrautes zu entdecken.
„Nein, das ist nicht unsere Kirche", antwortete mein Vater, „das ist die Kirche der Katholiken.“
„Was sind Katholiken?“, fragte ich verwundert.
„Das sind Menschen, die glauben auch an Gott, nur ein bisschen anders“, entgegnete er.
Seit diesem Tag war mein Verhältnis zu Gott gestört, denn dass es Menschen geben könnte, die anders an Gott glauben, das hatte man mir nicht gesagt. Außerdem gehörte ich von dem Tag an zu einer Minderheit, denn nur fünf von 45 Kindern meiner Klasse waren evangelisch. Außerdem stellten sich die Gottesdienste in der evangelischen Kirche als spärlich besuchte Veranstaltungen eines Hilfspfarrers in einer wenig feierlichen Baracke heraus.
Das alles ließ mich Gott gegenüber deutlich auf Distanz gehen, denn wie konnte er so etwas zulassen? Aber, da sich schließlich alles ausgleicht im Leben, wurde ich durch diese Krise zum Kulturantrophologen. Wenn man zu einer Minderheit gehört, dann fallen einem die Unterschiede zur Leitkultur deutlicher auf. Was blieb mir also anderes übrig als den kölschen Katholizismus zu studieren und der hat, wie alles im Leben, seine Vor- und Nachteile.
Ich wunderte mich darüber, dass Katholiken mit der Hand ein Kreuz schlagen.
Ich staunte über den Geruch von Weihrauch, der aus der Kirche kam (die ich im Übrigen nie im Leben betrat, weil es ja nicht meine Kirche war).
Ich erschauderte, als ich hörte, dass die Nachbarskinder regelmäßig zur Beichte gingen und ihre Sünden erzählen mussten, war aber erleichtert zu hören, dass man einfach ein paar Sünden erfinden kann, zum Beispiel, dass man gelogen habe, damit man die anderen Sünden nicht beichten muss.
Ich wunderte mich darüber, dass man das Cowboykostüm nicht dann tragen durfte, wenn man Lust hatte Cowboy und Indianer zu spielen, wie es in meiner alten Heimat üblich war, sondern nur an den fünf Tagen im Februar, wenn alles außer Rand und Band geriet.
Ich lernte, dass der kölsche Katholik feiern kann, wie kaum ein anderer.
Ich fragte mich, was das merkwürdige Aschekreuz auf der Stirn meiner Mitschüler war, mit dem sie an Aschermittwoch zum Unterricht erschienen. So würden ihnen die Sünden vergeben, die sie im Karneval begangen haben, sagte man mir.
Das kam mir praktisch vor.
Am Beispiel des Heiligen Martin, der seinen halben Mantel einem armen Mann schenkte, lernte ich, was ein Heiliger ist. Ich war fasziniert von dem riesigen Martinsfeuer, aber wunderte mich über den Martinszug, bei dem Herr Bollenbeck, der so dick war, wie sein Name schon klingt, auf einem Ackergaul sitzend, den heiligen Martin mimte, aber gar nicht wie ein Heiliger aussah. Ich lernte, dass es bei den Katholiken immer einen Heiligen gibt, an den man sich wenden kann, wenn man ein Problem hat.
Das war noch praktischer, denn ich hatte viele Probleme.
Eines meiner immer wiederkehrenden Probleme, war (und ist es noch heute), dass ich Dinge verliere. Als Kind verlor ich vor allem Handschuhe, Mützen, Schals, Turnbeutel und all dieses Zeug. Später wurden es Schlüssel, Zigaretten, Schulbücher, noch viel später Geldbörsen, Handys, Kameras oder Ferngläser.
Interessanterweise machte ich eine immer wiederkehrende Erfahrung. Ich verlor Sachen und bekam sie wieder. So zum Beispiel auf dem Hauptbahnhof in Mailand, abends um 22 Uhr. Ich verlor mein Portemonnaie beim Umsteigen vom Zug aus Florenz in den Zug nach Zürich. Fahrkarte, Ausweis, Geldkarte, Bargeld usw. alles futsch. Ich richtete mich schon auf eine unbequeme Nacht auf dem Bahnhof ein, als ein Polizist meinte, ich solle doch mal zur Wache gehen und fragen. Dort lag mein Portemonnaie. Nichts fehlte.
Oder zwei, drei Jahre später ließ ich an der Universität am Kopiergerät 500 Mark liegen. Am nächsten Tag ging ich zur Rezeption, fragte und erhielt mein Geld zurück.
Oder das teure kleine Fernglas, das ich bei der Abgabe eines Mietwagens in New York liegen ließ. Man rief mich freundlicherweise an und fragte, ob ich nicht etwas vermisse.
So etwas ist mir, ungelogen, hundertfach passiert.
Die Dinge kehren zu mir zurück, sagt meine Schwester.
Ich habe so viel Glück damit, dass sich mir der Eindruck aufdrängte, dass dies unmöglich Zufall sein kann. Nach statistischer Wahrscheinlichkeit muss diese Phase irgendwann enden. Tut sie aber nicht. Bis heute jedenfalls.
Wenn es aber keine wissenschaftliche Erklärung für dieses Phänomen gibt, was könnte dann eine vernünftige Erklärung sein?
Nun zahlte sich endlich mein anthropologisches Studium des kölschen Katholizismus aus.
Bei den Katholiken ist der zuständige Heilige für verlorene Dinge der Heilige Antonius. An den kann man sich wenden, wenn etwas verloren geht und bitten, damit er beim lieben Gott ein gutes Wort für einen einlegt.
Nun habe ich nie aktiv irgendetwas vom Heiligen Antonius verlangt und trotzdem kehren die Dinge zu mir zurück. Wenn man es logisch durchdenkt, dann gibt es nur eine natürliche Erklärung dafür: Der Heilige Antonius muss mein Schutzheiliger sein. Warum er sich gerade mich ausgesucht hat, das kann ich natürlich nicht sagen, aber es ist die einzig logische, nachvollziehbare Erklärung für mein Wiederfindeglück.
Nun verschlug es mich, mehr oder weniger zufällig, nach Padua. Ich erfuhr, dass der Heilige Antonius dort in einer Kirche begraben liegt. Es ist eine sehr schöne und wichtige Wallfahrtskirche, viele Pilger besuchen dort sein Grab.
Nun, ich war in dieser Stadt und dachte mir, wenn ich schon da bin, könnte ich doch eine Kerze beim Heiligen Antonius anzünden, um mich für die vielen Male zu bedanken, wo er mir geholfen hat, dass die Dinge zu mir zurückkehren.
Zu meiner großen Enttäuschung ist dies nicht möglich. Also es ist schon möglich, aber nicht so, wie ich das kenne.
Das Anzünden der Kerzen ist in dieser Kirche wegen der vielen Kunstschätze (das Grab des Heiligen Antonius besitzt einen außergewöhnlich, schönen Marmorfries) und der vielen Besucher die Kerzen anzünden wollen, nicht gestattet. Man kann aber draußen vor der Kirche eine Kerze kaufen und vor dem Grab des Heiligen Antonius in einen metallenen Container legen. So wie ich es verstanden habe, werden die Kerzen abends abgeholt, dann spricht ein Priester einen Zauberspruch darüber und die Kerzen sind dann wie abgebrannt. Also nicht wirklich, aber spirituell schon. Ob dieselben Kerzen dann am nächsten Tag wieder vor der Kirche verkauft werden, entzieht sich meiner Kenntnis, im Prinzip wäre das aber klug, sowohl aus spirituellen, aber auch aus ökologischen und vor allem aus wirtschaftlichen Gründen. Es wäre die absolut perfekte Kreislaufwirtschaft.
Ich allerdings konnte mich nicht zu so einem Opfer hinreißen lassen, es widerstrebt meiner protestantischen Prägung. Wenn schon Kerze dann richtig! Ich verzichtete also darauf, mich beim Heiligen Antonius erkenntlich zu zeigen, allerdings mit der nachvollziehbaren Furcht, dass er mir das übel nehmen würde.
Jedenfalls war das die Furcht, als ich wenige Wochen später meine Aktentasche, mit einigen Dokumenten und dem Füllfederhalter meines verstorbenen Vaters mitten in Berlin auf dem Alexanderplatz liegenließ. Als ich es zu Hause feststellte, war ich traurig, denn an dem Füllfederhalter hing ich sehr.
Abends saß ich vor dem Fernseher, als mich eine WhatsApp erreichte. Ein Foto zeigte meine Aktentasche und die Frage, ob sie mir gehöre? Dem Heiligen Antonius sei Dank, die Dinge kehren immer noch zu mir zurück.
Seitdem stelle ich mir aber die Frage, ob das mit dem Heiligen Antonius vielleicht doch nicht die richtige Erklärung ist, eigentlich müsste er mir böse sein. Ich habe begonnen zu zweifeln.

(c) Peter K. 2019

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Kommentare

15. Okt 2019

Die Geschichte ist sehr lesenswert.
HG Olaf