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eigene Lebensleistung dokumentiert ist? Das Schreckliche ist, dass ich dieses schleichende Gift des Besitzstolzes heute auch in mir aufsteigen spüre.
Es überraschte mich ebenfalls, als ich alle seine Lohnabrechnungen, von der ersten aus dem Jahr 1949 bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1990 auf dem Dachboden fand. Die ersten Jahre hatte er noch „geklebt“, wie man damals sagte, weil man die Lohnstreifen für den Rentennachweis sammeln und auf einen großen Bogen kleben musste, ich sah so etwas zum ersten Mal. Diese Dokumentation zeigt wahrscheinlich seinen Stolz über sein ununterbrochenes, erfolgreiches Arbeitsleben, was auch in den tausendfach erzählten Geschichten aus seiner beruflichen Zeit zum Ausdruck kam. Andererseits aber zeigt es auch ein tiefsitzendes Misstrauen, eine Unsicherheit und Angst, dass man ihm vielleicht etwas nehmen könnte, worauf er einen Anspruch hat. So, möglicherweise sein Gedanke, kann er seine Rentenansprüche jederzeit nachweisen. Aber vielleicht war es auch nur die Unfähigkeit Dinge wegzuwerfen. In seinem Arbeitszimmer fand ich Aktenordner mit dreißig Jahre alten Produktkatalogen und Quittungen, fein säuberlich geordnet und abgeheftet, überflüssig und sinnlos. Es nahm kein Ende, er hatte jede gebrauchte Schraube und jedes Stück Kabel, sorgfältig geordnet, etikettiert und aufbewahrt, gebrauchte Nägel hatte er wieder geradegeschlagen und ordentlich sortiert nach Größe und Material in kleinen Schubladenkästen aufbewahrt. Mir kam eine Geschichte meines Vaters in den Sinn: Ein bekannter Ruhrindustrieller war ein sparsamer Mann. Eines Tages ging der Prokurist zu ebendiesem Chef und meinte, dass die Holztreppe zum Büro so ausgetreten sei, dass es nicht mehr ginge und zu gefährlich würde. Man müsse die Treppenstufen austauschen. Da der Prokurist aber um die Sparsamkeit des Mannes wusste, schlug er direkt vor, dass man die alten Holzbretter einfach ausbauen und umdrehen könne, so könne man Kosten sparen. Der Industrielle meinte aber, dass das nicht ginge, weil er genau das aus demselben Grund vor vielen Jahren veranlasst habe.
Diese Geschichte hat meinem Vater imponiert, wobei sie heute das Licht auf eine längst untergegangene Welt wirft. Auch hier offenbarte sich sein Traum von einer Dynastie, die er wohl gründen wollte. Sparsam, fleißig, Wert auf Bildung legend, das Einfache schätzen.
Am meisten berührte mich aber der Fund seiner Familienakten. Er hatte je eine Akte über meine Mutter, meine Schwester und über mich zusammengestellt.
In meiner fand ich längst vergessene Zeitungsartikel und Leserbriefe von mir oder Zeitungsberichte über mich. Ich fand Briefe, Notizen, Visitenkarten. Alles war rudimentär, nicht systematisch, eher fragmentarisch. Ein aus einem Ringbuch herausgerissenes Blatt, vollgeschrieben mit meiner jugendlichen Schrift fiel mir in die Hände und aus den tiefsten Tiefen der Erinnerung tauchte die Situation vor meinen Augen wieder auf. Ich war 19 Jahre alt, ging noch zur Schule und wollte eine Taschengelderhöhung. Mein Vater meinte zu mir, ich solle eine Begründung für diesen Antrag formulieren und schriftlich einreichen.
Wie Sie sich sicher vorstellen können, fand ich das damals ziemlich peinlich. Was soll das, werde ich mich gefragt haben, er will mich quälen oder so was. Aber, ich habe den Antrag geschrieben. Fein säuberlich nannte ich vier Punkte, von Inflationsausgleich über erweiterte Interessen (Theater u.a.) und verstärkte Anhebung der „unteren Lohngruppen“ usw. Auch beim Wiederentdecken war mir dieser Schrieb noch ein kleines bisschen peinlich, aber es überwog das Gefühl der Bewunderung, nicht für mich, sondern für meinen Vater. Er hat mich damit „auf das Leben“ vorbereiten wollen. Er zeigte mir damals, dass man Forderungen begründen, dass man für seine Position argumentieren muss. Er tat das nicht, um mich zu quälen, sondern um mich zu lehren, wie es manchmal im Leben läuft. Wenn ich heute einen Sohn hätte, dann würde ich es genauso machen. Wie ich schon sagte, mein Vater hat mich geprägt. Ganz tief hat er sich in mein Leben gebrannt, und das ging viel tiefer, als ich es erwartet hätte.
Wissen Sie was ein Familienauftrag ist? Ein Familienauftrag ist ein in den meisten Fällen unbewusst von Generation zu Generation weitergegebener Auftrag ein bestimmtes Ziel zu erreichen, eine Familientradition zu bewahren oder einen früheren Zustand wiederherzustellen. Am Beispiel der britischen Königsfamilie kann man das gut erklären. Jede Generation dieser Familie hat seit Jahrhunderten den Auftrag, die Dynastie fortzuführen. Darauf richtet sich die Erziehung, die Ausbildung, das Denken und Trachten. Dem wird nicht alles, aber vieles, untergeordnet, und meistens klappt das interessanterweise auch.
Nun, unsere Familie, die Familie K., ist kein Königshaus und hat keine so lange Tradition, wie die Windsors, auch sind unsere Ansprüche bescheidener und trotzdem hatten sowohl meine Schwester, als auch ich, den Familienauftrag erhalten und wir haben ihn – im Rahmen unserer Möglichkeiten – angenommen und ausgeführt. Dies wurde mir beim Ausräumen des Hauses immer klarer.
Dazu muss ich ein wenig ausholen. Mein Vater kommt aus einer eher kleinbürgerlichen Familie. Nicht arm, aber keinesfalls reich. Kein intellektueller oder künstlerischer Hintergrund, nichts Besonderes, bescheiden, einfach, unauffällig, bodenständig.
Aber der Traum des sozialen Aufstiegs hatte meinen Vater und vermutlich schon vorhergehende Generationen ergriffen. Viele Jahre vor seinem Sterben gab er einmal einen seltenen Einblick in seine Seele. Wenn er sich ein Leben hätte aussuchen können, dann wäre er gerne als Kind einer Diplomatenfamilie am Genfer See geboren worden. Er würde so mindestens drei Sprachen fließend sprechen und würde sich auf internationalem Parkett bewegen. Mein Vater träumte von einem großbürgerlichen Leben, und er hat alles dafür getan, um diesem Ideal nahezukommen. Wissen Sie woran mir das klar wurde? Anhand einer Schuhtasche! Nein keine Schultasche, eine Schuhtasche. Ich fand sie zwischen den Koffern und Reisetaschen meines Vaters.
Es handelt sich um eine relativ neue, speziell für Schuhe ausgestatteten Reisetasche, hochwertig aus teurem Leder, in der platzsparend acht oder zehn Paar Schuhe transportiert werden konnten. Diese Tasche erscheint mir auch wie ein Relikt aus einer längst untergegangenen Welt, zeitlich irgendwo angesiedelt zwischen Schrankkoffer oder Hutschachtel und heute. Für mich ist diese Tasche ein Symbol der großbürgerlichen Träume meines Vaters, was gar nicht zu meinem Bild meines Vaters passte. Für mich war er lange Zeit natürlich ein Spießer. Stellvertretend dafür stand sein Einrichtungsgeschmack. „Eiche rustikal“ sagt Ihnen sicher etwas. Das war der Geschmack meines Vaters. Teuer waren die Möbel, aber halt „Eiche rustikal“. Das war der Geschmack des Kleinbürgers, und genauso schätzte ich meinen Vater ein. Sein Geschmack niveaulos, sein Benehmen und seine Manieren bäuerlich, seine Sprache peinlich und wenn er anfing englisch zu sprechen, dann begann ich mich „fremd“ zu schämen.
Ich fühlte mich ihm überlegen. Im Gegensatz zu meinem Vater habe ich studieren können, mehr Englischunterricht gehabt, habe sehr, sehr viel lesen können. Meine Bibliothek füllt Wände, in meiner Wohnung hängt ausgewählte Kunst, mit einigen Intellektuellen bin ich per Du, in der Welt der Reichen und Schönen bin ich nicht zu Hause, aber sie hat mir eine Reihe Einladungen zu schönen Urlauben beschert. Irgendwo ganz weit hinten spürte ich aber schon länger, dass da auch etwas Bäuerliches, Klein- und sogar Spießbürgerliches in mir ist und dass meine Bewunderung für dieses großbürgerliche Gehabe und Getue genau der Familientradition meines Vaters entspricht. Anhand dieser dusseligen Schuhtasche erkannte ich, dass ich den Familienauftrag nahtlos fortzusetzen versuchte. Ich würde zwar nicht dafür sorgen können, dass die männliche (sic!) Linie unserer Familie fortgeführt würde und der Traum meines Vaters, als Ahnherr einer großen Familie im Stammbaum aufgeführt zu werden, sich nicht erfüllen würde, aber wegen der tausenden gelesenen Bücher, dem modernen Design meiner mit einigen wenigen ausgewählten Antiquitäten gesprenkelten Wohnung und die Lust am intellektuellen Diskurs befand ich mich haargenau in der Tradition der bürgerlichen Träume meines Vaters. Mein Ziel war es immer, ein großzügiger Bildungsbürger zu sein. Vielleicht habe ich es nicht mit der Karriere und auch nicht mit der Anhäufung eines großen Vermögens geschafft, aber Bildung, Wissen, die Neugier auf Wissenschaft und Technik, die Sehnsucht nach Diskurs und das Interesse an andere Menschen, all das entsprach dem Traum meines Vaters, und ich habe– im Rahmen meiner Möglichkeiten – sein Ideal gelebt. Erschreckend dabei ist, dass heute dieses Ideal scheinbar mehr und mehr als etwas Altmodisches und Wertloses angesehen wird. So bin ich genauso ein Opfer meiner Zeit, wie es mein Vater in seiner Zeit war.
So wie ich stolz auf meinen gesellschaftlichen Umgang, so wie ich stolz auf meinen Geschmack und meine Bildung bin, so stolz war mein Vater auf all das von ihm Geschaffene, er liebte dieses Haus, die „Eiche rustikal Möbel“, seine kleine Kunstsammlung, seinen Garten, seinen Besitz. Wie sehr, wurde mir einige Wochen später noch klarer. Angeregt durch eine Krankenpflegrein fragte ich ihn, ob er noch einen Wunsch habe und er antwortete, er wolle noch einmal sein Haus sehen. Es war der Wunsch, das von ihm Erreichte, die Schönheit seines Besitzes, ein letztes Mal mit lächelndem Auge und voller Stolz zu betrachten und zu sich zu sagen: Ich habe es gut gemacht.
Da sei es nicht mehr schön, antwortete ich spontan und ohne Zögern, denn zu diesem Zeitpunkt war das Haus ein einziges Chaos: leere Wände, zusammengerollte Teppiche, gestapelte Bücher, gepackte Kartons, volle Müllsäcke, verpacktes Geschirr, abgehängte Bilder, fehlende Lampen, all das, was beim Ausräumen eines Hauses zwangsläufig geschieht.
Den Wunsch meines Vaters konnten wir auch deshalb nicht mehr erfüllen, da sich sein Gesundheitszustand kurz danach drastisch verschlechterte. Erst jetzt, beim Erzählen, kommt mir der Verdacht, dass es einen Zusammenhang zwischen meiner Antwort und seinem gesundheitlichen Zusammenbruch gegeben haben könnte. Vielleicht war die Vorstellung unerträglich für ihn, dass alles, was er geschaffen hatte, sich in rasender Geschwindigkeit auflöste. „Tand, Tand ist das Gebild von Menschenhand“ sagte Theodor Fontane in anderem Zusammenhang und es gibt kein besseres Bild, um zu beschreiben, wie schnell sich Dinge und Schönheit und Besitz auflösen können.
Vielleicht hat ihm erst das Bild der Entleerung seines Hauses seine wirkliche Endlichkeit vor Augen geführt, vielleicht habe ich ihm mit meiner spontanen Bemerkung, im wahrsten Sinne des Wortes den Todesstoß versetzt.
Bis heute weiß ich nicht, ob es richtig oder ob es falsch war, ihm diesen ernüchternden Anblick zu ersparen, aber seit jenen Tagen betrachte ich meine eigene Wohnung mit anderen Augen. Ich denke, es ist derselben Stolz, mit dem ich meine Wohnung, meine Bibliothek, meine Bilder, meine Möbel anschaue und ich weiß, dass meine Erben den allergrößten Teil davon einfach wegschmeißen werden, entweder weil sie gar keine andere Wahl haben oder weil sie es so schrecklich finden wie ich die „Eiche rustikal Möbel“ meines Vaters. Dann ist auch das alles nur noch Tand.
Es ist erstaunlich, was die Entdeckung einer Schuhtasche für eine Kette von Erkenntnis auslösen kann. So wühlte ich mich immer tiefer durch dieses Haus und irgendwie auch durch das Leben meines Vaters. Es blieb – auch nachdem Mutter ins Seniorenheim umgezogen war – mein Standort, eine Basis die sich sprichwörtlich auflöste. Warum ich so lange in diesem Chaos wohnen blieb, kann ich Ihnen nicht sagen, es hatte etwas Masochistisches. Eine tiefenpsychologische Erklärung wäre, dass ich das Leid meines Vaters auf mich nehmen oder wenigstens teilen wollte, aber dieser Gedanke ist weit hergeholt und eher eine billige tiefenpsychologische Spekulation. Es erschien mir praktisch und das Ausräumen des Hauses erscheint mir, auch im Nachhinein, im Wesentlichen als meine Pflicht. Keine Pflicht zu der ich gezwungen wurde, sondern eine Pflicht, der ich mich selbstverständlich zu stellen hatte. Meiner Schwester, wenige hundert Meter entfernt wohnend, wollte ich nicht die ganze Arbeit mit Haus und Nachlass überlassen und irgendwie spürte ich die Verantwortung, die Dinge im Sinne meines Vaters zu ordnen.
(c) Peter K. 2018