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beliebig viele Helfer anheuern, die Räume sind klein!) Was bei Blau & Laddel vielleicht ziemlich knapp wegkam, kann im Lager bei der Tafel immer noch einige Tage stehen, bevor der erste Kunde sich bedient. Wir behaupten hier nicht, dass irgendetwas bei der Tafel je nur eine Stunde nach abgelaufenem Datum ins Regal gestellt wurde. Aber am Tag seines Ablaufens gewiss. In Jahren haben wir viele Produkte mit verstrichenem Datum in den Regalen liegen sehen, Zufall sieht anders aus.
Es ist, eigene Erfahrung, in Deutschland möglich, die meisten Joghurt-Sorten bis zu drei Wochen nach dem aufgedruckten Datum zu genießen. Man schmeckt auch, wenn was nicht stimmt. Aber egal, jedenfalls Schnäppchenjäger - und solche gibt es unter den Armen gar nicht wenige - merken auf, wenn sie für etwas zahlen sollen, das „vorbei“ ist. „Hier steht 18. Mai. Wir haben den 20. Ich würde diese Steige noch nehmen, wenn ich einen Becher für zwei Cent haben kann.“ (Sie fragen sich: Wer kauft Milchreis in Steigen-Mengen? Wir fragen uns das nicht mehr. Alle Welt tut es.) Meine Russinnen hatten dieses Feilschen bald dicke. Sie hängten ein Schild heraus, „Mindesthaltbarkeitsdatum“ umfasse das Wort „mindestens“. Das besage, dass man es im normalen Laden danach nicht verkaufen könne, essen könne man es aber noch viel länger. Es sei ja kein „Verfallsdatum“. Und dann die nächste Information: „Unsere Preise sind Fixpreise! Nachlässe gibt es grundsätzlich nicht.“ Ab da diskutierten sie nicht mehr, sondern wiesen nur stumm mit dem Finger, wenn wer handeln wollte.
Was gibt es in bei der Tafel?
Nicht zufällig erwähnte ich diesen Milchreis. Milchprodukte und Ähnliches gibt es nahezu täglich. Es ist die Sorte Produkt, die in den Märkten rasch umgeschlagen werden sollte. Trotz Computerstatistik kann Blau & Laddel nicht exakt prophezeien, wie viele Saure Sahne oder wie viele Birnen an jeden der kommenden Tage noch verkauft werden. Blau & Laddel wird entweder immer etwas übrig haben oder seine Kundschaft dadurch schrecken, dass sie vor leeren Regalen oder Fächern steht. Blau & Laddels Obst-Gemüse-Frische-Image duldet nicht, dass abgepackte Beutel mit allmählich vergammelndem biologischem Material zu sehen sind und die allgemeine Ästhetik verderben. Anders ist das im Tafel-Laden. Dort werden Gemüse und Obst, die morgen kaputt sein werden, in Plastikbeuteln heute neben der Kasse abgestellt und kosten nur einen halben Euro aufs Doppelkilo.
Aber an keinem Tag des Jahres wird man mit einem einzigen Tafel-Besuch sämtliche Produkte rein bekommen, die man jetzt gerade bräuchte. Es kann kein Mensch alles, was er isst und trinkt nur von der Tafel holen. Es geht nicht. Kaffee, Apfelsaft, Mineralwasser, Waschmittel, Butter, Bier, Fleisch, Zahnpasta, Honig, Pommes frites. Es ist nicht völlig ausgeschlossen, dass auch meine Tafel so etwas mal führt. Aber das sind haltbare und von vielen Kunden bei Blau & Laddel vorab schon gekaufte Artikel. Das findet den Weg hierher selten. Sich an Brot, Gemüse, Äpfeln, Milch, Käse, Joghurt dumm und dämlich zu kaufen, fällt dagegen nicht schwer. Das Brot war angeblich „von gestern“. Es kam von eingesessenen Meisterbetreiben, nicht von Blau & Laddel. Na ja, frisch war anders.
Schokolade oder Süßigkeiten gibt es hier keine. Ausnahmen kommen vor. Was man im Tafel-Laden allerdings kriegen kann, sind Dominosteine zum Valentinstag, Ostereiernestchen im Juni, Muttertagsherzen im Juli. Manchmal war die Schokolade von einer Art Mehltau überzogen, was nachträglich Kunden zur Beschwerde bewog. Die Chefinnen sagten: „Das kommt von den Temperaturschwankungen. Das schmeckt gleich.“
In diesem Laden gab es nur ein einziges Kühlregal. Eine Tiefkühltruhe gab es nicht. Fischstäbchen oder Schlemmerfilets waren keine da, Kroketten oder Cornettos auch nicht. Allerdings wurden wir mit Götterspeise, Wurst, Käse, Forellen- und Lachsfilet (eingeschweißt) überschüttet. Fleisch so gut wie niemals. Wahrscheinlich hätte altes Fleisch schlecht gerochen in diesem kleinen Lokal. Butter gab‘s eher selten, Margarine dagegen oft.
Gewisse Basisprodukte, die man in der Armeleuteküche erwartet, bekam man von der Tafel nie. Kartoffeln, Reis, Nudeln, Mehl, Zucker, Bratfett! Eier konnten mal vorkommen, waren dann wie geschenkt. Chips öfter. Immer wieder auch komische Leckereien wie original-schottisches Marken-Shortbread, vakuumverpacktes Schweizer Fondue, echter Dresdner Stollen oder Baumkuchen, auch mal die sonst nicht billigen Pralinen einer bekannten Edelmarke. Exotisches Obst kam oft rein. In der Saison dann massig Spargel, Zwetschgen, Trauben. In Ein-Personen-Portionen wurde das nicht abgegeben, es musste doch schnell weg.
Ehrlich gesagt, ich glaube nicht, dass ich je einen Laib Brot bekommen habe, der nicht eine Woche vorgelegen hatte. Aber man sieht das Datum vom Brot ja nicht, vielleicht lüge ich also. Sahnetorten sahen immer wieder sehr verlockend aus, mussten manchmal zu Hause weggeschmissen werden; die Sahne war bitter. Auch jenen Schwank, den man sich in Hartz-Bezieher-Trainingsmaßnahmen in den Pausen erzählt, Schwarzwälder und dann Erbrechen oder Scheißerei, habe ich mehr als einmal erlebt. Zehn Quarktaschen im Sack für nur einen Euro. Man will drei Stücke Käsekuchen und wird gefragt, ob man nicht auch noch zehn Quarktaschen nimmt. Bestimmte Großverbraucher-Familien, vor allem für Obst und Gemüse, kannte man mit der Zeit vom Sehen. Viele türkische und kurdische Leute müssen Kaninchenställe hinter ihren Etagenwohnungen stehen haben, in denen sie kiloweise Kopfsalat und Gurken verfüttern, wenn Vater sie aus dem Mercedes-Kofferraum geladen hat.
Tabakwaren gibt’s keine. Alkoholische Getränke (wie Wein) gab‘s keine. Ungesunde Genüsse gelten nicht für die Armen, nur für die Arbeitenden. (Auch in die Hartz-Sätze rechnet der Staat keinen einzigen Cent für Wein, Bier oder Zigaretten hinein. Man beklagt sich hinterher lieber, wenn’s von der Unterstützung für die Kinder genommen wird.) Softdrinks in PET-Flaschen gab‘s, Mineralwasser nicht.
Warum ich dann nicht mehr hinging?
(Die Menschenwürde läuft auf Snobismus heraus.)
Ich stand im Regen in der Schlange vor der Tür. Schlange auf der Straße, vor dem Zahlen noch mal eine Schlange. Es gab nur eine Kasse. Nur die beiden Chefinnen durften kassieren. (Und die andere machte was anderes oder war nicht da.)
Ich fand mit der Zeit, Junkies haben eine bestimmte Art zu reden, auch wenn sie wieder clean sind. Die Mütter nahmen ihre Kleinen auf den Arm und in den Laden, drinnen plärrten sie und das Lokal war eng. Es gibt so noch halbwegs junge Frauen, die haben nie einen Mann, aber immer ein Kind oder mehrere und treffen in der Schlage immer ihresgleichen und das klingt so: „Die Arbeitsamtscheiße steht mir grad bis da! Na, ein Angebot Verkäuferin Textil-Discount hat sie für mich, da muss man eben seh‘n.“ Irgendwie glaube ich in diesem Augenblick, dass keiner in der Schlange dachte, dass sie demnächst für den Textil-Discount arbeitet. Denn sie hat doch keinen Mann und hat ihr kleines Kind und will bei dem Kind zu Hause sein. Auch die Mütter solcher Mütter sind oft ihrerseits seit vielen Jahren männerlos und ebenfalls dem Jobcenter hörig. Ich könnte es so erfinden, kenne es allerdings aus einigen Maßnahmen, in die ich musste. Man ist schnell dabei, so einer Sorte Mensch fehlende Lebenskompetenz zu unterstellen. Bis man erkennt, dass sie, während sie sich unterhalten hat, auf mysteriöse Weise vorbei an einem und zwei Stellen weiter nach vorn in der Schlange gerückt ist, und natürlich weiß sie, zu wem die Schlange hielte, wenn ein älterer, alleinstehender Mann ihr als Mutter eines kleinen Kindes Vorhaltungen machen würde.
Was ich verschiedenen Frauen, vor allem aus Mittelmeer- und Mittelasien-Ländern, verübelte, war, dass sie, wohl von den Sitten der Dorfmärkte ihrer Herkunftsregionen inspiriert, jedes frische, nicht hart verpackte Lebensmittel per Fingereindruck auf Frische untersuchen mussten, bevor sie sich für eines entscheiden konnten. Da war Plastik zwischen dem Finger und der Essware, doch mich enttäuschte, dass solche Leute nie auf die Idee kamen, all diese gleich aussehenden Brote derselben einen Sorte könnten von demselben einen Bäcker und demselben einen Tag stammen. Einmal Drücken hätte dann gelangt.
Ich erzählte es meiner Mutter. Meine Mutter meinte, jetzt würde ich alt und in meiner Sicht auf die Welt hässlich. Kinder wären halt Kinder.
Auf einmal sagte die Mutter: „Musst du dort denn einkaufen?“ Zum ersten Mal fragte ich mich das auch. Wie gesagt, ich musste ja sowieso immer noch zu Blau & Laddel, weil die Tafel vieles einfach niemals hatte. Bei Blau & Laddel stürzte ich mich auf die verbilligte Ware. Eismeerkrabben! Obwohl es das manchmal hinterher bei der Tafel sogar noch billiger gab.
Eines Tage versuchte ich es einfach mal. Schaffe ich es, mit Hartz und mit Trinken und Essen durch einen Monat zu kommen, ohne dass der Kontostand unter Null sinkt? Es ging. (Zugegeben: Der Hartz-Satz schließt ja nicht nur 4,60 Euro pro Tag fürs Essen und Trinken ein, sondern noch einige Euros für die Rücklagenbildung für Möbel oder Elektrogeräte, Schuhreparaturen oder neue Kleidung. Da disponierte ich zu Gunsten meines Lebens in Saus und Völlerei nun um.)
Die Schlange vor der Tafel sah ich Jahre noch, wenn ich durch die Fußgängerzone lief. Er lag in einer kleinen Seitengasse. Seit er dann umgezogen ist, komme ich nicht mehr vorbei. Ich weiß nicht, wie das mit der Flüchtlingskrise noch wurde. (Man hört, Unmengen von Lebensmitteln würden in Deutschland gekauft und weggeschmissen. Das nun ist das Sympathische an der Tafel: dass sie es den Armen gibt, bevor es weggeschmissen wird.)