Wilde Nachwendezeiten – und die Sache mit dem Pornofilm

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von Torsten Schönfelder

Wilde Zeiten waren das, nach der „Wende“ im Osten. Die alten Machthaber waren weg, taugten höchstens noch zu Witzfiguren und Running Gags: Ich liebe euch doch alle!

Und neue Machtstrukturen waren noch nicht etabliert, krampfhaft versuchten ehemalige Dissidenten ohne Kenntnisse in einer bürgerlichen Verwaltung gemeinsam mit ehemaligen Persilschein-Genossen irgendetwas wie Ordnung in das Leben der Bürger zu bringen.

Und dieselben pfiffen oft drauf, genossen das Vakuum und die rechtsfreien Räume. So manches Häuschen am See steht heute noch, gebaut an Orten, wo eigentlich nie etwas gebaut hätte werden dürfen.

Manchmal ärgere ich mich, nicht alles aufgeschrieben zu haben, denn die Erinnerung verwässert, und bei einigen Dingen frage ich mich schon, ob ich all das wirklich so erlebt habe?

Wir waren fast alle gerade von der Armee zurück, damals, dort hatten wir den Zusammenbruch der Strukturen noch intensiver erleben können, als anderswo in der Noch-DDR. Und jetzt gab es eine scheinbar grenzenlose Freiheit, schon erblühten abenteuerliche Autohändler, und schon bald war so mancher unterwegs entweder mit dem Trabbi (für'n Appel und'n Ei erstanden) oder gar mit dem ersten Westauto – und musste sich und seinen Freunden den teuren Fehlkauf der Rostlaube schönreden.

Wir hatten noch keine Kinder, aber dafür viel Zeit, fuhren einfach mal so 50 Kilometer weit zum Kaffeetrinken und feierten unsere Jugend.

Und die Neugierde wurde nach und nach befriedigt; all das, was im Westen jeder von Kindesbeinen an kannte, lernten wir jetzt kennen. Irgendwann öffnete die erste Videothek – eigentlich unerschwingliche Preise, aber man konnte in D-Mark bezahlen, dann waren sie moderat. Aber wer hatte schon D-Mark?

T. hatte D-Mark. T. war schon immer besser gestellt mit diesen Dingen, hatte Sachen aus dem Westen, die alle neidisch machten. Aber darauf legte er es nie an, war immer großzügig und auch heute, als die Idee aufkam, sagte er sofort, er würde die Rechnung übernehmen.

Die Idee – das war: Wir sehen uns einen Porno an! Freilich wussten wir alle – theoretisch – was dort zu sehen sein würde. Aber praktisch? Dass das überhaupt möglich ist, „sowas“ zu zeigen, in bewegten Bildern? Das mussten wir sehen.

Also gingen wir leicht errötend in die Videothek, zeigten unsere Ausweise und liehen den erstbesten Pornofilm aus. Auch das Abspielgerät dazu, denn 1990 besaß kaum einer so etwas privat. Nicht mal T.

Der Rest ist dann schnell erzählt. Die Veranstaltung fand abends in der Wohnung meiner Eltern statt, die gerade abwesend waren, wir stöpselten das Gerät an den Fernseher, und sahen – oh Wunder – in grauenvoller Qualität Menschen beim Kopulieren zu. Die zugehörige Handlung allerdings war zum einen sehr hölzern und zum anderen noch grauenvoller synchronisiert, als die Bilder ästhetisch wirkten.

Von diesem Abend existieren noch Schwarz-Weiß-Fotos: Nach kürzester Zeit waren alle Anwesenden außer mir eingeschlafen. Das Bier und der Wein taten ihr Werk und der Film seines dazu. Ich war noch wach. Ich spulte vor (kopulierende Menschen), spulte noch einmal vor (kopulierende Menschen).

Dann schaltete ich ab, davon wurden alle wieder wach, falteten sich auseinander und gingen nach Hause.

Für mich war das der erste und einzige Porno-Abend meines Lebens.

Und meine Erkenntnis: Man muss, bei all den bunten Verlockungen, nüchtern hinter die Fassade sehen.

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