Irgendwie hatte uns das Leben alle in den Katharinenhof gespült: Aussteiger, Studienabbrecher, Suchende, Illusionierte und Desillusionierte.
Manche von uns waren zuvor auf ihrer Suche im Ausland, oft in abenteuerlichen Ländern, andere bei der Armee, wieder andere die ersten „Zivis“ im neuen Staat, dessen Bürger wir jetzt waren. Wir hatten mehr Fragen als Antworten, und empfanden den Dienst für Schwerbehinderte irgendwie total diametral entgegen der Strömung, die für die meisten anderen „D-Mark“, „Kariere“, „Jetzt sind wir wer!“ bedeutete.
Wir lebten in einem kirchlichen Kokon, waren jung und fanden uns selbst und uns gegenseitig einfach nur gut. Und vielleicht waren wir das ja auch, mit unserer jugendlichen Unbeschwertheit, mit unserer Rebellion und unserem Erwachsen-Werden.
In der Ausbildung zur Heilerziehungspflege lernten wir dann zuerst Mehrfach-Schwerstbehinderte, oder Schwerst-Mehrfachbehinderte kennen; um diese Worte gab es immer wieder erhitzte Diskussionen.
Wir lernten sie kennen, und nach der anfänglichen Scheu bastelten wir sie perfekt in unser Weltbild ein, Menschen, die oft nur einmeterdreißig groß waren, in abenteuerlich konstruierten Rollstühlen lebten, oft nur lallen, quieken und sich winden konnten, die gewindelt wurden und die – auf den ersten Blick – nichts konnten. Wir begriffen sie doch als Menschen, als Persönlichkeiten.
Wir waren gleich mit ihnen.
Weihnachten nahte, und auf Grund der Personalsituation in diesen Tagen wurden Weihnachtsfeiern für die Bewohner schon vorher abgehalten. Weihnachtslieder, Gebäck (püriert), Weihnachtstee (angedickt).
In den Ausbildungswochen dazwischen lernten wir mutige Reformpädagogen aus den 68ern kennen, die revolutionäre Thesen formulierten, Heinz Bach, Otto Speck, Wolfgang Eßbach, wir zerfaserten unsere Hirne in den Diskussionen um ihre Thesen.
„Normalisierung“ hieß das Zauberwort.
Weihnachten nahte, und es wurde klar, dass am Heiligen Abend fast nur Heilerziehungspflegeschüler, also wir, im Dienst sein würden. Alle anderen Mitarbeiter hatten Familie, und wir waren bereits erfahren genug, um diesen Abenddienst allein hinzubekommen.
Ich weiß nicht mehr, wer genau die Idee zuerst in Worte fasste; möglicherweise war ich es selbst: Wenn wir über Normalisierung reden, was gibt uns dann das Recht, den Weihnachtsabend vorzuverlegen, für die „Behinderten“?
In den Tagen vor Weihnachten wurde der Plan immer konkreter. Wir wollten in einer konzertierten Aktion am Heiligen Abend die Bewohner in der Turnhalle der Einrichtung zusammenführen und dort am „richtigen“ Weihnachtsabend mit ihnen feiern.
Wir planten das alles generalstabsmäßig. Und geheim. Das war unsere persönliche Revolte gegen das System, gegen das Establishment, wir würden es „denen“ so richtig zeigen, wo der Hammer hängt.
Einer von uns, S., hatte von irgendwoher einen hässlichen, kleinen Plastik-Weihnachtsbaum mit Beleuchtung mitgebracht. Den drapierten wir nun allabendlich in unserer Unterkunft, erhitzten dazu furchtbaren Glühwein aus der „Pappe“ und planten das heimliche Fest. Es wurden Lieder geschrieben, Musikstücke geübt, Gedichte verfasst. Es entstand ein Ablaufplan. Jemand musste Musik einspielen, ein anderer das Licht zur rechten Zeit verdunkeln, Apfelsinen und Gebäck mussten serviert werden. Der Raum wollte vorbereitet sein. Wie im Lehrbuch der Praxis- und Methodenlehre. Wir waren die besten.
Nun ist es nicht so ganz einfach, dutzende Menschen mit schweren Behinderungen zu einem bestimmten Zeitpunkt in eine Turnhalle im Erdgeschoss zu bringen. Der eine benötigt spezielle Schuhe, der nächste einen Gurt am Rollstuhl, die andere muss noch auf Toilette, usw. usf. Manche mussten per Hand getragen oder begleitet werden. Es gab also irgendwie eine geheime Anfangszeit, oder ein Zeichen, ich erinnere mich nicht, damit alle zugleich im Turnsaal sein würden. Es gelang.
Und dann war es soweit. Wir alle saßen, standen. lagen, auf Sitzsäcken, in Rollstühlen, auf Matten... Der Geräuschpegel war sicher nicht weihnachtlich, denn viele Bewohner drückten sich durch unartikulierte Laute aus.
Es gab Musik, es gab Gedichte, es gab Pfefferkuchen und Weihnachtstee.
Es war Weihnachten.
Irgendwann war es vorbei. Zu Ende.
Alle Bewohner wurden wieder nach oben geschafft und dort im Akkord gewaschen und bettfertig gemacht.
Wir waren auch bettfertig.
Erschöpft, und mit einer nicht definierbaren Glückseeligkeit saßen wir an S` Plastik-Weihnachtsbaum. Wir hatten das Gefühl, etwas wirklich gutes vollbracht zu haben. Einige Pappen Glühwein steigerten unser Hochgefühl. Wir sangen tatsächlich noch „Stille Nacht“ zur Gitarre und irgendwann gingen wir schlafen.
Ich habe danach viele Jahre lang keinen Glühwein mehr trinken können, ich hatte mich echt „vergiftet“.
Über den Sinn des Weihnachtsfestes ist schon sehr viel geschrieben worden.
Ich denke (oder bilde mir das jedenfalls ein), seit Weihnachten 1995 bin ich da ziemlich nahe dran.
TS