Über die Angst vor der Angst

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von Marie Mehrfeld

Ebenso wie Liebe ist Angst ein Grundelement unseres Lebens. Während die Liebe das Leben erhalten und die Angst überwinden will, kann die Angst Leben und Liebe zerstören. Die beiden Phänomene stehen also im diametralen Gegensatz zueinander. Und weil ich so angstfrei und gelassen wie möglich leben möchte, lohnt es sich für mich, die „Angst“ genauer unter die Lupe zu nehmen. Ich will sie näher kennen lernen, weil ich gelegentlich Angst habe vor meiner Angst. Das wird eine längere Abhandlung.
Das Wort Angst stammt von dem griechischen Verb „agchein" und vom lateinischen „angere“ ab. Übersetzt heißt das so viel wie „würgen, die Kehle zuschnüren“. Über den Umweg der Psychoanalyse und Existenzphilosophie hat sich das deutsche Wort Angst inzwischen international durchgesetzt, bei den Engländern zum Beispiel als „angst“.
Platon und Aristoteles begriffen Angst noch primär als physische, auf konkrete Objekte bezogene Reaktion. Der abendländische Kirchenvater Augustinus (354-430 nach Christus) sah die Angst als eine der vier menschlichen Hauptleidenschaften. Er unterschied die niedrige Furcht vor Strafe von der höher bewerteten Furcht vor Schuld aus Ehrfurcht vor Gott. Der dänische Theologe Sören Kierkegaard (1813-1855) betrachtete die existenzielle Angst als Wesensmerkmal menschlichen Denkens und der Willensfreiheit. Im Sprung in den Glauben soll laut Kierkegaard die Angst überwunden werden. Für den deutschen Existenz-Philosophen Martin Heidegger (1889-1976) war Angst eine Grundbefindlichkeit, in der das Dasein auf sich selbst zurückgeworfen wird.
Die Psychologie unterscheidet zwischen Angst als Zustand und Angst als Eigenschaft. Zustandsangst ist eine vorübergehende Emotion aufgrund einer als real eingestuften Gefahr, wir nennen sie auch Furcht. Die verinnerlichte Angst existiert auch ohne akute Bedrohung.
Im Zustand der Angst erhöht sich der Puls, erweitern sich die Pupillen, wir geraten ins Zittern, fühlen vorübergehend Entsetzens und Ausweglosigkeit. Angst als Eigenschaft nimmt uns langfristig die Neugier, die Lebensfreude, sie lähmt uns, kann uns unkontrolliert überfallen und krank machen. Unter der Angst erkennen wir unsere Endlichkeit deutlicher, deshalb ist jede Form der Angst auch immer - die Angst vor dem Tod.
Angst hat aber, wie wir alle wissen, auch eine helfende mobilisierende Funktion. Unter Angst sind Menschen zu Leistungen fähig, die ihnen unter normalen Umständen nicht gelingen würden. In als beängstigend oder aufregend empfundenen Situationen schütten die Nebennieren die Botenstoffe Adrenalin und Noradrenalin aus. Unser Herz schlägt schneller, das Blut bindet mehr Sauerstoff, der Körper ist bereit und fähig zur Flucht oder Verteidigung. Angst kann uns in besonderen Situationen (Wettbewerb, Prüfungen) „Flügel verleihen“, sie kann wegen ihrer Warnfunktion sogar lebensrettend sein. Wir haben einen eingebauten Sinn für Gefahr, wir wittern sie, er warnt uns, hält uns davon ab, Risiken einzugehen. Ohne Angst kann der Mensch auch heute noch kaum leben und seine Vorfahren hätten es schon gar nicht gekonnt. Außerdem gibt es noch die Spielart der Angst als Lust, als Kitzel, der sich Menschen freiwillig aussetzen, beim Schauen eines Psychothrillers oder beim mörderischen Wettrennen mit geklauten Autos durch Innenstädte, nur zum Beispiel.
In unserer Wohlstandsgesellschaft haben sich den alten menschlichen Ängsten wie Angst vor Krankheit und Tod, Liebesverlust, Einsamkeit und sozialem Abstieg neue hinzu gesellt. Aktuell steht die Angst vor der Pandemie Covid 19 im Vordergrund, sie hat die ganze Welt im Würgegriff. Unsere Regierung hat früh genug klug gehandelt und den Lockdown verordnet, die Schließung von (halb-)öffentlichen und privaten (einschließlich privatwirtschaftlichen) Einrichtungen, die Abriegelung von Gebieten bis hin zu ganzen Ländern sowie den Stillstand des öffentlichen Lebens, der über Wochen und Monate anhielt. Außerdem wurden viele Milliarden Euro in Wirtschaft und Kultur und in die jetzt so belasteten Familien gepumpt. Momentan, Mitte Juni 2020, halten sich die Zuwachszahlen an Neuerkrankungen in einem so niedrigen Bereich, dass die allgemeine Stilllegung in allen Bundesländern gelockert wird. Geschäfte dürfen öffnen, die Kinder nach und nach in die Bildungsstätten zurückkehren; alles unter der Bedingung, dass die verordneten Regeln eingehalten werden. Falls wir Bürger/innen uns weiterhin diszipliniert verhalten und so eine zweite Krankheitswelle verhindert wird, könnte es sein, dass unser Land die Krise mit viel Glück „mit einem blauen Auge“ übersteht. Darauf sollte man hoffen. Das Virus ist allerdings noch so wenig erforscht und so unberechenbar, dass alles anders kommen kann. Dennoch sollte sich die Angst um das eigene Leben hier in Mitteleuropa in Grenzen halten. Fürchten müssen wir uns allerdings wegen der Ausbreitung des Coronavirus in Entwicklungs- und Schwellenländern. Man denke auch an die riesigen Flüchtlingslager. Die Menschen leben dort dicht zusammen gepfercht, können keine Abstandsregeln einhalten, haben nicht genug Schutzmasken und ein völlig überfordertes Gesundheitssystem. Die Zahl der Erkrankten und Toten wird sehr hoch sein.
Aber wie auch immer es kommt – wir dürfen nicht vergessen, dass es auch vor Covid 19 Seuchen gab, die sich rasend schnell ausbreiteten und ihre hilflosen Opfer gnadenlos töteten. Allein die Beulenpest forderte im 14. Jahrhundert 20 Millionen Opfer. Und die bisher größte Pandemie suchte die Menschheit am Ende des Ersten Weltkriegs heim – also erst vor hundert Jahren. Die Spanische Grippe forderte 1918/19 allein in Europa mehr als zwei Millionen Tote. Bis zu 50 Millionen sollen es weltweit gewesen sein.
Berechtigte Angst vor Atomkraft existiert nach wie vor, es grassiert die allgemeine Zukunftsangst, die Angst vor Bloßstellung in sozialen Medien, vor genetisch veränderten Lebensmitteln, vor der fortschreitenden Zerstörung der Umwelt, Angst vor Einbruch und Diebstahl, vor terroristischen Anschlägen. Seit 2015 nach der Aufnahme von etwa einer Million Flüchtlingen aus den Krisengebieten des Nahen Ostens und Afrikas hat die Angst vor Überfremdung massiv zugenommen. Sie entlud sich in Brandstiftungen und zunehmendem Hass und Gewalttaten gegenüber Geflüchteten. Mit dem unerwarteten Flüchtlingsstrom sind fraglos jede Menge Probleme aufgetreten. Zu wenige Deutschkurse, überfüllte Unterkünfte, überforderte Ämter, unterbesetzte schlecht ausgerüstete Schulen, überforderte ehrenamtlichen Helfer. Zu den häufigsten Übergriffen auf Flüchtlingsheime und Flüchtlinge kommt es erstaunlicher Weise in deutschen Städten und Gemeinden mit geringem prozentualem Anteil von Ausländern an der Gesamtbevölkerung. In Frankfurt am Main mit seinen 730 000 Einwohnern leben beispielsweise Menschen aus 170 Nationen zusammen, rund 25 Prozent von ihnen haben keinen deutschen Pass, die Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund ist aber weitaus höher, denn Eingebürgerte und Personen mit doppelter Staatsangehörigkeit werden in der Statistik als Deutsche geführt. Im Vergleich dazu weist Dresden mit 525 000 Einwohnern einen Ausländeranteil von nur knapp sieben Prozent aus. Wie ist es aber zu erklären, dass die bunt gemischte Bevölkerung Frankfurts friedlich und angstfrei zusammen lebt, dass es keine Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte und Übergriffe auf Geflüchtete gab und gibt, während aus Teilen der ehemaligen DDR darüber berichtet wurde? Das hat doch vorrangig mit dem Thema Angst zu tun. Meine Stadt Frankfurt ist schon seit eh und je eine weltoffene multinationale Stadt, während die DDR von der Welt weitgehend abgeschottet war und so ein eher fremdenfeindliches Milieu entwickeln konnte.
Die modernen Ängste sind zum politischen Faktor geworden. Angetrieben von den in sozialen Medien verbreiteten „Fake-News“ vermehren sich diffuse Ängste aller Art rapide, jetzt zu Coronazeiten treiben sie besondere hässliche Blüten. Sie beeinflussen das Wahlergebnis weltweit, denn es hat sich gezeigt, wer die Volksangst bedient, kann sich über Stimmenzuwachs freuen.

Wir dürfen es mit unseren Ängsten aber nicht übertreiben. Denn Fakt ist: Das Ende des zweiten Weltkriegs liegt 75 Jahre zurück! Keine Generation vor uns hat eine so lange andauernde kriegsfreie Zeit erlebt! Da ist Dankbarkeit angesagt. Außerdem müssen wir bedenken - so lange die Erde besteht, folgte eine Umbruchphase, eine Schreckenszeit auf die andere. Das 20. Jahrhundert zum Beispiel begann mit der Industrierevolution und der Urbanisation der Städte um 1900. Es folgte die Zeit des 1. Weltkriegs mit 17 Millionen Toten. Hinzu kamen die Toten der Spanischen Grippe. Dann kamen die Jahre der großen Inflation in den Zwanzigern und die Weltwirtschaftskrise mit großer Arbeitslosigkeit und Verarmung eines Teils der deutschen Bevölkerung. Daran anschließend entwickelte sich der Nationalsozialismus mit dem 2. Weltkrieg und seinen unsäglichen Verbrechen, mit 50 Millionen Toten und der Zerstörung vieler deutscher Städte durch alliierte Luftangriffe. Direkt nach dem Krieg kam die Zeit des Mangels und Hungers und des zu bewältigenden Flüchtlingsstromes von 12 Millionen Menschen. Es folgte die mühsame Phase des Wiederaufbaus mit der Gründung der BRD und der DDR und im Anschluss daran die Zeit des kalten Krieges mit wachsender atomarer Bedrohung. Die Zeit der Perestroika brachte den Zerfall des Ostblocks mit sich und schließlich den Fall der Mauer. Die beginnende Epoche der Digitalisierung war vielleicht der größte Umbruch, den wir erlebt haben, er hat die Welt verändert, die Globalisierung ausgelöst. Nach wie vor leben wir in der Furcht vor islamistischen Anschlägen weltweit. Als wir dachten, jetzt haben wir erst einmal Ruhe verdient, da traf uns Corona. Und es werden uns zukünftig mit Sicherheit andere weltweit ausbrechende Krankheiten, kriegerische Auseinandersetzungen oder Naturkatastrophen in Angst und Schrecken versetzen, von deren Tragweite wir zum Glück noch nichts wissen.

Kopf in den Sand und die Ängste pflegen und beschwören hilft nicht weiter. Wir müssen näher in Kontakt treten mit unseren Ängsten und sie kritisch anschauen und hinterfragen, um heraus zu finden, sind sie fiktiv oder real. Wie und warum wirken sie auf mich? Vor allem müssen wir lernen, besser mit ihnen umzugehen und einen Weg finden, um sie zu besiegen. Es hilft sicher, wenn wir uns klar machen, dass wir in einem freien demokratischen und wunderschönen Land leben, das eins der sichersten und reichsten der Welt ist, dass wir mehr als genug zu essen, zu trinken haben und mit allem notwendigen Komfort wohnen. Wir sind an Reisefreiheit gewöhnt (die wir zurzeit sehr vermissen), eine freie Presse, dürfen unsere Meinung frei äußern können, verfügen über ein medizinisches Versorgungssystem, um das wir beneidet werden. Es bewährt sich auch in der jetzigen Pandemiekrise. Wenn wir jammern, dann auf vergleichsweise hohem Niveau. Lasst uns die Hoffnung nicht verlieren und die Angst auf niedrigem Niveau halten. Lasst uns stattdessen dankbar dafür sein, dass es uns im Vergleich sehr gut geht.

Doch es gibt eine Angst, die nicht groß genug sein kann. Sie könnte für die Menschheit eine rettende Funktion haben. Denn wovor wir uns wirklich fürchten müssen, das ist die rasend fortschreitende Zerstörung der Schöpfung durch unsere Gier nach immer mehr. Die Angst vor dem Absterben der Natur, ohne die wir nicht leben können, sollte uns so heftig packen, dass wir endlich umdenken und handeln und retten, was noch zu retten ist. Dass es noch möglich ist, lehrt uns ausgerechnet die Pandemie Corona. Der notgedrungen verordnete weltweite Stillstand hat eine spürbar sauberere Luft zur Folge und klare Gewässer; wie man lesen kann, tummeln sich sogar in dem vorher toten Wasser der venezianischen Kanäle wieder Fische. Es geht doch. Wir müssen es nur wirklich wollen und lernen, zu verzichten – und zu teilen.

Jetzt habe ich genug nachgedacht über die Angst, mir brummt der Kopf. Setzen wir doch bewusst und vermehrt den Gegenspieler der Angst ein, die Liebe in all’ ihrer Vielfältigkeit - dann werden wir die „Angst vor der Angst“ in den Griff bekommen.

Mir hilft bei „Angst“ Johannes 16, Vers 33: „In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden“.

Marie Mehrfeld
überarbeitet am 14. Juni 2020

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