Als ich elf Jahre alt war, machte ich zum ersten Mal die Bekanntschaft mit der tierischen Spezies „weiße Maus“. Bis dahin waren mir nur ihre grauen oder braunen Artgenossen in Feld und Wald bekannt gewesen - und die in unserer Speisekammer, welche mit (meiner damaligen Meinung nach) bösartigen und hinterhältigen Menschenmethoden zur Strecke gebracht wurden: Angelockt von einem Stück Speck ließen sie sich in kleine tödliche Fallen locken. Anschließend landeten sie unbeerdigt auf dem Komposthaufen. Das fand ich hundsgemein.
1946 schenkten mir meine großen Schwestern zu Weihnachten zwei weibliche weiße Mäuse aus einem Krankenhauslabor. Das war eine riesige Überraschung für mich, denn ich hatte keine Ahnung, dass es die possierlichen Nager in weißer Farbe gibt. Nur die Männer, die mal „einen über den Durst getrunken“ hatten, waren angeblich in der Lage, sie zu sehen. Das bezweifelte ich stark. Als meine Mutter mir beim Weihnachtsnachmittagskaffee mitteilte, du wirst heute noch weiße Mäuse sehen, habe ich sie laut ausgelacht. Ich war erstens weiblichen Geschlechts und hatte zweitens lediglich zwei Becher Kakao getrunken und mein Durst war gestillt! Das konnte also gar nicht sein. Wieder mal eins von diesen familiären Lügengeschichten, dachte ich. Die beiden kleinen weißen rosaschwänzigen rotäugigen Tierlein reisten in einer Zigarrenschachtel an, die schön verpackt auf meinem Gabentisch lag. Sie waren mit Abstand mein tollstes Weihnachtsgeschenk. Allerdings gab es auch sonst nicht viel, nur die alte Puppenstube wie jedes Jahr, ein Buch, einen handgestrickten Pullover aus kratziger Wolle und ein paar Plätzchen. Ich war entzückt über dieses Geschenk, das ich mit niemandem teilen musste.
Die beiden Mäusedamen nannte ich Emma und Hanna (nach meinen beiden besten Freundinnen) und liebte sie auf Anhieb. Um sie unterscheiden und korrekt anreden zu können, markierte ich Emma am Kopf mit roter Wasserfarbe, die aber zu meinem Leidwesen am nächsten Tag schon abgeleckt worden war. Die Papphüllen eines ehemaligen Carepakets wurden ihre Wohnung, sie stand auf dem Kachelofen im Wohnzimmer, dem einzigen geheizten Raum in diesem saukalten Winter. Erst lief es gut, man freute sich an dem Familienzuwachs. Doch bald stellte sich heraus, dass eins der possierlichen Tierchen doch wohl ein Männchen war, denn es wurden nach zwei Monaten sechs blinde rosafarbene Mäusesäuglinge geboren. In neu geborenem Zustand fand ich sie eklig, doch nach zwei Wochen war das erste Fell gewachsen, und ich war sehr stolz auf meinen kleinen Zoo. Den ersten Wurf bestaunten wir noch begeistert, meine Freundinnen und Freunde aus der Nachbarschaft eilten herbei und staunten. Man sah, wie sie von ihrer Mutter Emma gesäugt wurden. Die vermeintliche Hanna nannte ich um in Hannes. Ich erhob für meine Freunde einen Eintrittspreis von einem Pfennig. Das fand ich berechtigt, denn ich hatte ja auch die Arbeit mit dem Sauberhalten der Mäusewohnung. Sogar unser erwachsener Besuch war bereit, für die Besichtigung zu löhnen. Bald rappelte mein Sparschwein angenehm laut, wenn man es schüttelte. Ich hatte jedoch mit meinem Privatzoo viel Arbeit. Ständig musst ich neues Sägemehl aus der Schreinerei holen und alte Brotreste und Äpfel kleinschneiden. Und neues Wasser ins Näpfchen füllen. Außerdem kennen diese Nager kein Inzesttabu. Kaum geschlechtsreif begatteten sie sich kreuzweise und vermehrten sich in rasantem Tempo. Ich verlor den Überblick über die Mausefamilie, es war auch nicht mehr möglich, ihnen Namen zu geben, denn man konnte sie nicht voneinander unterscheiden. Auch meine Freunde fanden die Sache bald nicht mehr so attraktiv und meine Einnahmen als Zoodirektorin waren nicht mehr nennenswert. Wie das im Leben so ist, der Reiz des Neuen war bald dahin. Die immer größer werdende Nagerfamilie begann für mich mehr Last als Freude zu werden, auch, wenn ich das nicht zugeben wollte. Du willst raus zum Spielen? Irrtum, erst wird der Mausestall gesäubert! So verging ein Jahr. Der nächste Winter war wiederum ein harter und die Kohlen waren knapp. Und mein Mäusezoo hatte sich auf mehr als dreißig Mitglieder vermehrt. Unvorstellbar auch, wie diese Mäusebande stank! Es war die Hölle für die sich um den warmen Kachelofen drängelnde Großfamilie. Man versuchte mich davon zu überzeugen, dass es wohl besser wäre, die Nagerfamilie an das Krankenhaus zurück zu geben, aus dem ihre Vorfahren stammten. Da ich meine Niederlage aber nicht zugeben wollte, verteidigte ich meinen tierischen Clan mit Händen und Füßen.
Und dann passierte es. Als ich eines Morgens zum Frühstück kam, war das Wohnzimmerfenster weit offen; gründliche Lüftung fand statt. Der Pappkarton stand nicht mehr auf dem Kachelofen. Sie sagten, man habe der Mausefamilie die Freiheit geschenkt im nahen unbelaubten Wald. Meine Trauer war gewaltig und durchaus ehrlich, denn ich wusste, dass die weißen Winzlinge dort nicht überleben konnten. Und den Tod hätte ich den Nachkommen von Emma und Hanna, nein, Hannes, bei aller Last, die sie mir bereitet hatten, keinesfalls gewünscht. Insgeheim aber war ich auch erleichtert, denn nun brauchte ich die Mausbehausung nicht mehr zu säubern und hatte wieder mehr Zeit für meine Freunde draußen am Eck.
Mia erzählt: Die tragische Geschichte von den weißen Mäusemädchen Emma und Hanna
von Marie Mehrfeld
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