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Eine schicksalhafte Begegnung (KAFKAS PRAG)
© Gherkin 15. April 2020
Ich hebe sehr langsam den Kopf. Du kennst das sicher - mit Sicherheit weißt du, da ist noch jemand im Zimmer. Du weißt aber auch, dass diese Person keine direkte Gefahr darstellt, und sei es auch nur für diesen kurzen Moment. Unsere Urinstinkte funktionieren auch dann noch, wenn wir die muffige Alltagspanzerung des abgestumpften Großstadtdschungel-Einzelkämpfers über die demolierte Psyche gestreift haben. Wir „hören“ nur die Signale nicht mehr so deutlich. Aber Instinkt und Intuition des einstigen Höhlenmenschen lauern noch immer in jedem von uns. Und so weiß ich also, da ist noch jemand im Raum. Es geht keine direkte Gefahr von dieser Person aus. Aber ich werde sehr aufmerksam beobachtet. Mir fällt eine Textstelle aus einem Buch ein, das ich vor vielleicht 25 Jahren einmal gelesen habe. Dort ist ein Goldgräber in seiner Grube damit beschäftigt, eine weitere Goldader freizulegen - als er das untrügliche Gefühl verspürt, dass von oben, vom Rand der Grube also, Gefahr droht. Dort steht jemand und hält eine Waffe auf ihn gerichtet. Sobald er sich umdrehen wird, geht diese Waffe los. Das weiß der Mann. Schwitzend, angestrengt nachdenkend, gräbt der Mann in der Grube weiter. Solange er seinen Rücken zeigt, droht keine Gefahr. Er weiß auch, es ist sein Kompagnon, der dort oben steht und mit dem Revolver auf ihn zielt. Der bislang getreue Gefährte dieses sehr harten, entbehrungsreichen Einsiedler-Lebens hat sich zum Wolf, zum bösartigen Tier gewandelt. Von gestern auf heute. Blanke Gier nach dem kompletten Claim bricht in spürbaren Wellen aus ihm hervor und trifft auf den in Todesangst schaufelnden Mann unten in der Grube. Eine nahezu hoffnungslose Lage. Gedächtnislücke: Mir fällt auch bei angestrengtem Nachdenken nicht ein, ob und gegebenenfalls wie sich der arme Mensch gerettet hat oder wie diese Geschichte überhaupt ausgegangen ist. Doch exakt diese Szene grub sich tief in mein Gedächtnis ein - das erbarmungslose Wissen des Grabenden um die Lebensgefahr, ohne Chance auf Überprüfung des Tatbestandes. Eine sozusagen nahezu kafkaeske Szene.... Und Kafka ist hier, in Prag, ja nun wirklich nicht weit weg! Du findest ihn in nahezu jeder Ecke, in jedem Winkel.
Als mein Blick in den Spiegel fällt, sehe ich das bekannt bleiche, markante Gesicht und erschrecke wegen der Ungeheuerlichkeit des Augenblicks. Tausend jähe Gedanken schießen mir durch den arg verwirrten Schädel. Es kann ja nicht sein, schrillt es da in meinem Kopf, es kann nicht sein! Doch diese unglaublichen Augen ziehen mich magisch an, halten mich in ihrem Bann gefangen. Welch ein Augenpaar! Schwarz, düster, in tief liegenden Höhlen, geheimnisvoll, melancholisch und sehr ernst. Ein tiefer, analysierender Blick, schonungslos klar und unglaublich ....bittend?, verzeihend?, ja, fragend? - nein, der Blick ist wissend! „Herr Doktor“, rufe ich halb laut, ein wenig überrascht und auch nur geringfügig eingeschüchtert. „Ich hatte Sie ja hier rein gar nicht erwartet!“. „Und das, obschon mich nahezu jeder gerade hier wohl erwartet", sagt der dunkel gekleidete, ältere Mann nachdenklich und ruhig, mit etwas belegter Stimme, aber in klarem Deutsch und sehr bedächtig. Ich wende mich um. Er sitzt auf dem Bett, hat die Beine steif übereinander geschlagen, glättet eine Falte seines Leibrocks und wischt sich etwas linkisch die imaginären Staubpartikel vom Hosenbein. Meine Bewunderung ist grenzenlos. Dieser Mann weiß das, aber (und das weiß ich!) - er lehnt Bewunderung und Personenkult ab. Eine Bewegung seiner linken Hand soll dies andeuten - doch er führt sie nur halb aus. „Wie soll ich Sie anreden?“, frage ich gespannt. Diese Begegnung.... Und das in einem eher öden Hotelzimmer eines öden Stadtviertels knapp außerhalb Prags. „Nenn mich also Amschel - und sag endlich du, Etikette scheint mir hier nicht so recht angebracht“. Seine Antwort kommt leise und klingt ein wenig müde. Wieder seufzt der bleiche Mann, fährt mit dem rechten kleinen Finger die markante Linie seiner rechten Augenbraue entlang, hält inne - so, als ob er sich des absurden Handelns im gleichen Augenblick bewusst geworden wäre, wendet den klassisch schönen Kopf mit den hohen Wangenknochen und legt nach: „Es wäre schön, wenn wir ein wenig Spazieren gehen könnten! Nun?“
Anstelle einer Antwort kleide ich mich langsam an. Dezent wendet sich Amschel ab. Einen sensibleren, schamhafteren, seelenvolleren Menschen habe ich wohl noch nie so nahe bei mir gehabt. Ein Schauder durchfährt meinen Körper, läuft hinab bis in die Kniekehlen - ich suche erneut den direkten Blickkontakt. Diesem Blick entspannt zu begegnen ist nahezu unmöglich. Denn du fühlst dich ertappt, entwaffnet, durchschaut, und auf ein Minimum reduziert, was Persönlichkeit, Intelligenz und natürlich auch die Charakterfestigkeit angeht. Schweigend sehen wir uns an. „Wohin werden wir gehen" frage ich sanft. Amschel winkt lasch. Wie viele seiner Bewegungen ist auch diese nur halb (und etwas schlaff) ausgeführt bereits zu Ende. Ich erhebe mich und folge seinen Schritten.... Den Aufzug nimmt er nicht, er wählt die Treppe. Vom 4. Stock begeben wir uns hinunter auf die Straße vor das Hotel. Dort zieht „mein“ Doktor einen Schal aus der Manteltasche und wickelt ihn sich umständlich um den Hals. Es ist kalt in Prag. November.... Schweigend gehen wir nebeneinander her. Kleine Wölkchen umgeben den berühmten Schriftsteller, wenn er auszuatmen gewillt scheint. Wir sind jetzt in der Nähe des Praha Hlavní nádraží, des Hauptbahnhofes.
Am Bahnhof zeigt sich das ganze Dilemma der neuen Zeitrechnung in der Tschechei. Gut erhaltenes, wunderschönes und bezauberndes Prag einträchtig neben Zerfallenem, Verwahrlostem und aller Würde Beraubtem. Die Hände tief in den Taschen des aus schwerem Tuch gearbeiteten Wintermantels vergraben, verharrt mein Begleiter in einem Seitentrakt.
Dort setzt sich eine sehr junge Fixerin, weitab von gierigen Touristenblicken, einen „Morgenschuss“. Ich sehe etwas verlegen zu, Kafka aber drückt seine Nase an der blinden Fensterscheibe zu einer abgelegenen, verwahrlosten Halle platt, die keinerlei Aufgaben mehr zu erfüllen scheint. Verschlossen und unzugänglich, denke ich, so, wie viele ja auch deine Werke finden, Amschel. Wir bewundern beide die herrliche Jugendstil-Kuppel des Herrn Fanta. Lange stehen wir also schweigend da, die Köpfe weit zurück gebeugt. „Zerfall ist ein Prozess, ein irgendwie traurig-schöner Prozess!“. „Und von Prozessen verstehst Du ja wirklich etwas, Amschel“, wage ich etwas jovial und kokett einzuwerfen. „Diese
Kommentare
Großartig ! Wie immer !!!
HGOlaf
Dankeschön, lieber Olaf. Du bist einer der wenigen,
die auch vor langen Texten keine Scheu zeigen.
Und dafür mag ich Dich sehr. Herzliche Grüße,
Gherkin
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