...und es geht doch... (Mit Kafka in Prag) - Page 5

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er sich das Ende seines Romanfragments AMERIKA vorgestellt hatte... Bei ihm hieß das Fragment allerdings nicht Amerika, sondern "Der Verschollene". Ich las es mit Heißhunger auf eine wie auch immer geartete Fortsetzung oder Beendigung. Diesen Hunger niemals gestillt zu haben, das ist eine der nur schwer unter Kontrolle zu haltende Begierde. Wie dieser begnadete Schriftsteller sich wohl das Ende vorgestellt hat?
 
Im Judenviertel halten wir uns nicht wirklich lange auf. Spät am Abend sitzen wir im „Repräsentationshaus“, oben links im Erdgeschoss - genau gegenüber dem teuren französischen Restaurant, wo die „besser betuchten Prager“ und natürlich die reichen Touristen zu dinieren pflegten. Wir trinken Apfelschorle und hatten 2 Marillenlikör, hernach Espresso und Cognac. Wir sind etwas müde, haben die ganze lange Zeit über nichts gegessen und ich sehne mich nach Ruhe und nach Entspannung. Ich lasse mir ein belegtes Baguette und eine heiße Gulasch-Suppe kommen, und Amschel bestellt Palatschinken. Schweigend essen wir jetzt. Nach einer langen Pause, die mir wie eine halbe Ewigkeit vorgekommen ist, beginne ich nun also wieder dort, wo ich im Slavia aufgehört hatte. Franz schweigt und sieht mich hin und wieder wie prüfend an, so, als wolle er das Gesagte durch Blickkontakt in den Stand der Wahrheit oder in das Land der Lügen erheben oder auch verbannen. Ich kann mitunter seinem Blick kaum stand halten.... So ungewöhnlich sanft seine Augen auch auf mir ruhen, sie beunruhigen bei längerem Blickkontakt. Obschon sie weder flackern noch fiebrig glänzen, es ist diese unglaubliche Ruhe und wohl auch unduldsame „Strenge“, die von ihnen ausgeht. Ich fühle mich, wie schon erwähnt, ertappt bei Dingen, die normal und menschlich sind, aber möglicherweise in Kafkas Sinne „peinlich“ und eben nicht entschuldbar sein konnten. Wäre ich bei ihm Zuhause und müsste auf die Toilette, ich würde es nicht schaffen, ihn darum zu bitten, mir zu zeigen, wo sich die "Örtlichkeiten" befänden.

Solch banale Thematik auch nur zu streifen, scheint im Beisein dieses empfindsamen Mannes völlig unmöglich... Ich erzähle von drei schlimmen Ehen - und sehe, dass Franz seine Stirn in Falten zieht. Seine drei gescheiterten Verlobungen mit 2 Frauen – Parallelen??? Ich wage ja ab und an, von Seelen- oder (So vermessen! So vermessen!) Geistesverwandtschaft zu reden zwischen dem Doktor und mir - ich weiß, es ist mehr als dreist, kühn und keck, sich mit diesem Dichterfürsten messen zu wollen.... Aber Parallelen? Wer kann je ermessen, welch großes Leid dieser meistens stille, in sich gekehrte Mann mit sich herumzuschleppen hatte ein kurzes, „ereignisloses“ Leben lang?? Welche Qualen? Selbstzweifel! Dramatisches Scheitern in seltenen Phasen des überschäumenden Glückes. Jede Fährte führte zur Falle. Ich kenne dieses Phänomen!

Du bist verdammt zu leben - kannst nicht entfliehen, darfst dich leider auch nicht umbringen, musst ausharren und weißt sehr genau um das tragische Ende. Kafka hängt an meinen Lippen, endlich erreiche ich ihn, endlich schaffe ich es, ihm die Tragweite meines Scheiterns näher zu bringen. Ich erzähle von Drogenkonsum, von Orientierungslosigkeit, von hoffnungslosen Versuchen, über gewaltige Lügengebäude einen Ausweg aus dem Dilemma zu finden, um letztlich nur noch tiefer in den Strudel der Verdammnis geworfen zu werden. Ich berichte von entsetzlich ausschweifenden Orgien eines kranken Gemüts, eines falsch gepolten Verstandes, einer fehlgeleiteten Persönlichkeitsstruktur mit extremen Charakterfehlern. Ich berichte F. Kafka viel zu laut, so dass man bereits am Nebentisch aufmerksam wird - Amschel versucht durch eine nur halb ausgeführte Handbewegung, mich zur Mäßigung aufzurufen - und ich erzähle auch viel zu viel. Alkohol, all die vielen Drogen, und die Maßlosigkeit, diese Eitelkeit, Selbstüberschätzung, Lieblosigkeit gegen meine eigene Person und gegen all meine Mitmenschen; ja, ich lege eine sehr konkrete, beeindruckend ehrliche Beichte über mein generelles Scheitern ab. Kafka schweigt und lauscht. Ob innerlich berührt, ob vollkommen kalt geblieben bei all meinen Ausbrüchen (Kopfchaos pur!) ist mir bis heute ein Rätsel. Gleich bleibend bescheiden sitzt er da in seinem Mantel, den er nie auch nur ansatzweise geöffnet oder gar ausgezogen hätte, blickt mal mich und dann wieder den versilberten Pfefferstreuer vor uns an, hört zu, macht ab und an eine, wie ja stets, nur halb ausgeführte Bewegung mit dem rechten Arm - und bleibt stumm...

Was erwarte ich denn auch? Lebenshilfe pur von einem vom Schicksal verdammten Menschen, der auch keine Rettung sah und sich ebenso wie ich mutig-hilflos durchs Leben schlug? Wie sagte noch Ingeborg Bachmann, die doch ebenfalls so tragisch Gescheiterte?? „Der ich unter Menschen nicht leben kann..“. Ja, das mag, auf den Punkt gebracht, so in etwa unser beider Schicksal sein. Wir müssen, können aber nicht wirklich! Und sehen ein, dass wir letztlich doch müssen! Wir tun es daher, glauben an die Sinnlosigkeit des VERSUCHS, gehen aber mutig weiter. Oh, welch extrem masochistischer Antrieb! --- Lebenslust, Lebensangst, Lebenslüge, dies alles gepaart mit einer permanenten Schwermut, die alles überdacht und damit alles nur noch schwerer macht. Der Anti-Hedonismus. Fatalismus pur. Und erneut rede ich:

„Und dann die Erkenntnis, dass jeder Weg eine Sackgasse ist, dass weder Alkohol noch Flucht in Drogen die Wahrheit oder die Freiheit bringt. Jede Wendung, Biegung, jedes Hakenschlagen, Umziehen, Weglaufen, jedwedes panische Flüchten führt zu immer derselben Erkenntnis: Es gibt kein Entrinnen! Du aber hast noch eine einzige Chance! Bist du zu schwach, um sie zu nutzen oder hast du am Ende sogar die Stärke, diese deine absolut LETZTE Chance selbstironisch zu zerstören? Hast du denn nicht immer schon an jedem Ast gesägt, der dich zu tragen in der Lage war? Warst du nicht stets bereit, alter Hasardeur, über Bord zu springen, wenn Schwierigkeiten auftauchten oder Verantwortung drohte?

Selbstzerstörungsmechanismus... Wo war ich denn noch vor  Jahren?“ schreie ich in höchster Erregung hinaus. Ich hatte mich in einen Rausch der Verdammnis geredet - jetzt sollte auch noch dieses letzte bisschen Würde mit Angst und Ekel ausgespien werden. „Widerlich!“ brülle ich und bin nicht zu beruhigen. Wir mussten die Lokalität verlassen, sonst hätten die Kellner die Polizei geholt. Draußen hole ich tief Luft, zünde mir eine Zigarette an. Ich bin mit den Nerven fertig. „Ich bin ein widerliches Insekt! Ein peinliches, verkommenes Subjekt, tief unter allem Getier vegetierend, ja, wohl näher dem Gewürm im dunklen Erdenreich als

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Kommentare

16. Apr 2020

Großartig ! Wie immer !!!
HGOlaf

25. Apr 2020

Dankeschön, lieber Olaf. Du bist einer der wenigen,
die auch vor langen Texten keine Scheu zeigen.
Und dafür mag ich Dich sehr. Herzliche Grüße,

Gherkin

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