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neue Zeit ist ein katastrophaler Segen“, seufzt Kafka, „was wird aus Prag, was wird aus meinem Land? Ich komme nur noch selten hier her. Alles ist sehr verwirrend und irgendwie unwirklich für mich. Sicher, einiges kenne ich noch so, wie es sich noch heute darstellt. Doch vieles kann ich mir nicht erklären, für so viele Dinge weiß ich keinen Namen; und ich verstehe und begreife die Menschen heute nur noch oberflächlich, nicht mehr im Kern ihres Wesens. Was wollen sie alle?
Wohin streben sie denn nur? Welche Werte verkörpern diese mitunter schleichenden, manchmal huschenden, dann wieder bewegungslos still stehenden Schattenwesen? Form, Struktur, Inhalt - hilf mir, wohin geht der Weg?“ Ich sehe seine Verzweiflung, sie ist echt. Ich nehme ihn in den Arm. „Doktor, lieber Doktor“, flüstere ich dann, fast flehend, und ziehe ihn weg, in das Getümmel, ins Leben hinein, „immer die stringent schwermütigen Gedanken. Sieh die lachenden Gesichter, Amschel, betrachte hier den Kaufmann, der mit Hingabe seine Schaufensterscheibe wienert - schau dort, das kleine Mädchen mit dem Lutscher.... Und sieh hier, der frohe Junge mit dem Skateboard!“
Postwendend kommt die Frage: „Was um Himmels willen ist ein Skateboard?“. Kafka klingt merkwürdig kehlig, als er das für ihn völlig fremde Wort im Munde kaut, dreht und zerfließen lässt. Ich lasse die Frage letztlich unbeantwortet --- sie ist zudem, wie ich wohl weiß, lediglich rhetorisch gemeint gewesen. O ja, es ist immer noch schön am Wenzelsplatz, es macht mir Freude, am Altstädter Ring zu stehen, die Karlsbrücke ist sehr belebt und wir sind umzingelt von Touristen, die in einem wahren Babylon- Sprachengewirr dicht gedrängt an den Zeichnern, Malern und Karikaturisten vorüber ziehen. Wir werden angestoßen, auch beiseite gedrängt und mitunter auch mal am Weitergehen gehindert. Amschel ist diese Menschenmassen gar nicht gewohnt. Er versucht auszuweichen, er hofft auf die „ideale Linie“, um unbeschadet, bar jeden Kontaktes, über jene berühmte Karlsbrücke zu kommen. „Wir hätten nicht hierher kommen sollen“, stößt es heiser aus ihm heraus. „Babylon mit den tausend Zungen! Ich will hier weg!“ Mit einem sehr schönen, sehr großen Taschentuch, auf dem ich die Initialen F.K. eingestickt bemerke, wischt er sich den Schweiß von der Stirn. „Gehen wir doch ins ‚Café Slavia‘, Dottore“, schlage ich vor. Nickend willigt Amschel ein, schneller werden seine Schritte. Wir gehen einige Zeit, bis wir beim Café Slavia sind.
Ich betrachte die Oper gegenüber voller echter Bewunderung. „Solch ein Prachtbau!“ bemerke ich, doch Kafka antwortet nicht. Im „Slavia“ wogt die Menge an dutzenden von kleinen Tischchen. Nicht gar so viele Touristen, stelle ich fest, sicher auch eine Menge Einheimischer - oder, anders gesagt, eine Menge Tschechen. Mein bleicher Begleiter bestellt eine Wiener Melange, ich selbst bestelle einen Lindenblütentee.
Schweigend sehen wir uns um, wir haben direkten Blickkontakt zu jenem Gemälde, das mich bereits seit meiner Jugend fasziniert. Wenn ich den Ober richtig verstanden habe, heißt der Künstler, der dieses Werk geschaffen hat, Petr Olivan oder so ähnlich. „Absinth“ nenne ich das Gemälde - wie es wirklich heißt, weiß ich nicht. Ich könnte Kafka fragen, lasse es jedoch nach einem langen Blick in sein Gesicht. Ein klassisch schönes Gesicht, mit, wie soll ich sagen, melodramatischem Ausdruck. Leidend? Ja, etwas leidend... Wohl auch sehr krank, sicher - aber in erster Linie leidend, doch fern von jedem Selbstmitleid. „Erzähle mir ein wenig von Dir, Herschel!“, leise dringt seine eindringliche Stimme an mein Ohr. Inmitten dieses Gewusels von Obern, Serviermädchen, neu ankommenden Gästen und stetig nach draußen drängenden Menschen beginne ich, dem Autor Dr. Franz Kafka meine Lebensgeschichte zu erzählen. Versonnen betrachtet dieser dabei das Operngebäude durch das mächtige Fenster im Café Slavia. Er ist viel zu gefühlvoll, mich jetzt direkt anzublicken. Ich sage alles, erzähle von meiner Jugend zwischen Judentum und Christentum, hin und her gewürfelt, ein Spielball der Willkür Erwachsener; für mich war es als Kind kaum mehr nachzuvollziehen, was ich darstellte, wo ich wirklich hin gehörte und wer ich letztlich wirklich war. Ich erzähle markante Episoden, Geschichten, die mich als Kind verwirrten und meine Psyche verdunkelten, seltsame Begebenheiten, die mich so sehr verwirrten, von merkwürdigen Dingen und mir, als Kind, unverständlichen Ritualen der Erwachsenen. Vieles begriff ich nicht, vieles habe ich bis heute nicht begriffen.
Wie grausam Erwachsene doch oft sein können - besonders dann, wenn sie nicht erklären, warum sie dies oder jenes tun. Wie grausam andererseits aber auch Kinder sein können, die es nicht besser wissen - „Anders sein“ ist ein schweres Erbe. Ich rede mich in Rage, komme in Fahrt, bewege beim Sprechen die Arme und Hände, erkläre und fuchtele dabei, so, als könne ich die Vergangenheit beschwören, gefälligst einen anderen Verlauf nehmen zu wollen. Kafka lächelt gequält, er sieht mich nicht an. Ab und an faltet er die Serviette auseinander, legt sie dann wieder liebevoll zusammen und streicht sich über das Haupthaar. Wie gut er das kennt..... Auseinandersetzungen mit dem Vater, der nicht begreift und auch nie begreifen wird. Meine gestammelten Sätze sind nur hilflose Versuche, Unbegreifliches und nahezu Zerstörerisches so zu erklären und begreiflich zu machen, dass auch die ewig belehrenden Rechtfertigungs-Permanent-Monologe und ermüdend in Gebetsmühlen-Manier wiederholten Doppel-Gegenanklagen ersterben, und sich dann im Herbstnebel der Erinnerungen verlieren.
Amschel räuspert sich und wirft kurz ein, als ich eine Pause mache: „Die Sicht aller Dinge ist stets subjektiv! Jeder trägt in sich eine andere, eine eigene Wahrheit. Der Mörder findet auch eine stichhaltige Erklärung dafür, dass er die Tat begangen hat - sonst könnte er ja nicht überleben, weder in der Zelle noch, so die Tat unentdeckt bleibt, in Freiheit. Er beruhigt sein Gewissen, träumt sich eine eigene Realität, betrügt das Unterbewusstsein - und schafft sich einen Rahmen, der ihm das Überleben in Schuld und Gewissenspein ermöglicht. So auch Deine Vorgehensweise, die sich in nichts unterscheidet von all den Leuten, die sich Dir gegenüber ja erklären müssten.
Entscheidungen wurden getroffen, für Dich, gegen Dich - aber alles aus der Sicht des Individuums. Und ergo alles stets richtig, aus dem jeweiligen Moment der Situation heraus, so dass letztlich die realen Gegebenheiten zwar stets mehrere Möglichkeiten zuließen, aber nur diese eine für Dich zuzutreffen schien. Nun, nenne es von
Kommentare
Großartig ! Wie immer !!!
HGOlaf
Dankeschön, lieber Olaf. Du bist einer der wenigen,
die auch vor langen Texten keine Scheu zeigen.
Und dafür mag ich Dich sehr. Herzliche Grüße,
Gherkin
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