SITRA ACHRA

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-Die Faszination des Grauens-

Dr. Gebhard Zwolle wirkte aufgrund seiner intellektuellen Ausstrahlung faszinierend:

Hohe Stirn, Brille mit hervorragend optimiertem Gestell und Goldrand, passend zum kantig-ernsten, bartlosen, stets glatt rasierten, immer rosig-frischen Gesicht. Darin höchst aufmerksame, listig blinkende, stahlgraue Augen, die das Gegenüber sicher und klar anzuschauen gewohnt waren, frei von Angst oder Scheu. Auffällig der fein geschnittene Mund mit sensiblem Lippenschwung – ja, das machte einigen Eindruck auf den Betrachter. Schön? Nein, als schön konnte dieser Zwolle nun nicht gerade bezeichnet werden, aber er mochte als äußerst interessante, für Frauen durchaus attraktive Erscheinung gelten. Erfolgreich als 2. Prokurist einer expandierenden großen Industrietechnik-Vertriebsgesellschaft tätig (doch, es war sein ausgemachtes Ziel, innerhalb von 3 Jahren 1. Prokurist zu sein!), hatte er es zu, sagen wir, bescheidenem Wohlstand gebracht. Ihn reich zu nennen, das wäre übertrieben, Zwolle nannte ein nettes Eigenheim, ein nagelneues Auto – und natürlich eine kleine Familie sein Eigen.

Die rechte Doppelhaushälfte hatte er vermietet. An ein ruhiges Ehepaar mit wohlerzogenen Kindern. Bevor er den Mietvertrag unterschrieb, hatte Zwolle das Ehepaar vierfach „abgecheckt“, über die Schufa, den Verband Creditreform, die Auskunftei Schimmelpfeng und einen etwas merkwürdigen Privatdetektiven namens Wolfram Siebenkreutz. Erst, als er von allen 4 Seiten das klare O.K. bekommen hatte (Bonitätsstufe überall zwischen 200 und 100), war er bereit, dem Ehepaar Küng (nicht verwandt mit dem Theologen) die rechte Doppelhaushälfte zu einem vertretbaren Preis zu vermieten. Es mag dies ein gewisses beleuchtendes Element auf den Privatmann Zwolle werfen, der durchweg konservativ, abseits allen „weltlichen Trubels“, seine biederen Kreise zog. Sowohl im Beruf als auch privat galt Gebhard Zwolle als etwas „angestaubt“, ein ganz klein wenig langweilig. Daher wurde er auch beim Chef der Firma, für die er tätig war, für eine Beförderung zum 1. Prokuristen langfristig nicht in Betracht gezogen – dies aber war Zwolle nicht bekannt. Sein Chef setzte auf "innovative Kräfte mit Eigeninitiative". Davon war G. Zwolle weit entfernt.

Die andere Doppelhaushälfte bewohnte er selbst mit Frau und Kindern. Laster kannte er keine, er rauchte und trank nicht, hatte dies nie getan. Selbst in seinen "wilden" Zeiten, die es eigentlich nur dem Namen nach gab (Zwolle hatte sich ein einziges Mal auf ein Skateboard gestellt und war kläglich gescheitert), hatte er niemals auch nur einem Exzess gefrönt, war nie aufgefallen. Lieblingsmusik: Adamo und die Wildecker Herzbuben, Lieblingslektüre: Financial Times. TV-Highlights: ZDF Fernsehgarten, Küchenschlacht, einige Quiz-Shows und Notruf Hafenkante. 4 Sprachen, alle perfekt: Englisch, Spanisch, Französisch und Niederländisch, da die meisten Kunden des Ückendorfer Betriebs in den Niederlanden zu finden waren. Sein Lieblingsfilm war „Ein Schweinchen namens Babe“, weil die Ehefrau und auch die Kinder diesen Film bevorzugten. Es war üblich für die Familie Zwolle, an den Osterfeiertagen Teil 1 und 2 an den aufeinander folgenden Feiertagen zu sehen. Jahr für Jahr… Wie Dinner for One. Unabänderlich.

Zwolle gab sich nicht dem Glücksspiel hin und besuchte niemals auch nur eines der vielen Bordelle oder „Clubs“ in Gelsenkirchen. Kurz, Gebhard Zwolle war das Musterbeispiel eines Mannes, dem man ansah, dass er nicht nur sein Leben meisterte, sondern zudem auch noch gern lebte. Denn er hatte Prinzipien, Ziele und Aufgaben zu einer Einheit verwoben, er lebte strengstens auf Einhaltung aller Regeln bedacht. An seiner Seite: Eine liebende Frau, sie war ihm treu ergeben, schien ihm zugetan und unterstützte liebevoll, fürsorglich und kameradschaftlich seine Ziele, die sie auch, aus praktischen Erwägungen heraus, zu den ihren erkoren hatte, und den beiden Kindern, friedlich vor sich hin. Als Ehefrau und ‚Rückenstärkerin’ achtete sie darauf, dass die häuslichen Probleme, sofern überhaupt vorhanden und augenscheinlich geworden, den Gemahl kaum erreichten. Die Kinder, ein Junge und ein Mädchen, dessen Namen er ab und an vergaß, was ihm jedes Mal sehr peinlich war, sie hatten ihm niemals auch nur für eine Minute Kummer bereitet, passten hervorragend ins bislang als erfreulich wahrgenommene Bild – in seiner kleinen Welt, mit sich und seinem Schicksal sehr zufrieden, gab es keinen Horror und keine Probleme. Durchaus glücklich also lebte dieser Zwolle inmitten der umtosten Steinwüste, abseits von Leid, Not und Elend, von Kummer, Entbehrung und Zweifeln aller Art. Und doch war es gerade diesem Mann bestimmt, ja auch und gerade ihm, auf bitterste Art und Weise, in nie gekannter Manier, den Becher der Erkenntnis bis zur Neige zu leeren. Dem sonntäglichen Kirchgänger sollte eine harte Lektion durch das pralle Leben erteilt werden.

Und ergo musste Zwolle eines Tages erkennen, dass es diese andere Seite gab, die wir hier einmal 'SITRA ACHRA' nennen wollen.

An einem Morgen im Mai, als sein fast fabrikneuer Opel Zafira 1.6 CNG ecoFLEX Turbo Erdgas-Van streikte (er hatte ihn aus reiner Solidarität mit den von Magna geschluckten und deutlich abgebauten Arbeitnehmern der autarken Ex-General Motors-Belegschaft gekauft, obschon er einen flotten kleinen Toyota im Blick gehabt hatte), sah sich Zwolle erstmalig gezwungen, auf den Linienbus der Linie 15 oder 19 auszuweichen. Zum ersten Mal seit vielen Jahren drohte eine Verspätung, diese harte Tatsache machte ihm doch etwas zu schaffen. An der Haltestelle angekommen, musste er feststellen, dass hier nur alle 40 Minuten Verbindung zur Außenwelt unterhalten bzw. angeboten wurde. Die Linie 15 in Richtung Industriereservat verkehrte bis 7:45 Uhr im 20-Minuten-Takt, ab dieser Zeit jedoch nur noch im 40-Minuten-Abstand. Jetzt war gerade ein Bus dieser Linie um die Ecke gebogen, Zwolle konnte ihn noch sehen. Er unterdrückte einen Fluch. Hätte er geflucht, so wäre ihm wahrscheinlich ein „verdomme“ herausgerutscht. Dies war sein Zugeständnis an die holländischen Handelspartner, oft genug hatte er diesen Fluch hören müssen, ob am Telefon oder in den vielen Arbeitssitzungen. Aber Zwolle pflegte nie zu fluchen. Sich auf die Lippe beißen, bei Gebhard Zwolle kein bildhafter Ausspruch, nein, er biss sich tatsächlich auf die Unterlippe, auf dass kein Fluch seinen gepflegten Mund- und Rachenraum verlassen konnte. Ein schneller Blick auf die teure Uhr, der einzige Luxus, den er sich gönnte – es war bereits 7:48 Uhr, nicht daran zu rütteln. Der nächste Bus also würde in ca. 35 Minuten fahren. Die 19 fuhr, wie ein Aushang deutlich machte, gar nicht mehr von hier aus. Ein Taxi? So überlegte Zwolle und verwarf den Gedanken rasch. Nein, entschied er

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Kommentare

06. Jul 2020

Wie kann man sich in so kurzer Zeit dermaßen herunter wirtschaften?
Mir unverständlich. Aber, ehrlich, sehr gut geschrieben. Gruß, Paddy

06. Jul 2020

Danke für die Blumen, Paddy und Gerfried. Sitra Achra
bedeutet: Die Seite der Unreinheit, kurz: Andere Seite.

Dankeschön-Gruß von Gherkin

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