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Volk“, „Perlen vor die Säue“, „Völlig unerreichbar, diese Penner“ usw., ganz zum Schluss hörte Zwolle noch: „Das ist ja völlig sinnlos, mit solchen Wohnsitzlosen überhaupt zu reden!“
Gebhard Zwolle, der zweite Prokurist einer weltweit operierenden Industrietechnik-Vertriebsgesellschaft, ist aufgrund dieser Ausnahmesituation absolut nicht in der Lage gewesen, irgendetwas halbwegs Vernünftiges zu erwidern. Was sollte er auch sagen? Ärger und Wut erhitzte sein Gesicht. Solch eine himmelschreiende Ungerechtigkeit! Und das ihm! Noch letzten Sonntag hatte der Pastor von Hiob gesprochen. Jetzt erkannte Zwolle den Zusammenhang.
Er war ja eigentlich gar nicht gemeint. Schlimm genug, dass die Alte ihn so gut wie erkannt hatte. DAS war die eigentliche Tragik, DAS war es, was ihn wurmte und schmerzte. Es kam noch hinzu, dass er noch nie zuvor einen Toten gesehen hatte. Noch nie. Alle seine Verwandten (ja, selbst Oma und Opa beider Familien!) lebten noch, er hatte tatsächlich bis auf den heutigen Tag keinen Leichnam gesehen. Und nun dies. Zwolle hatte sich nun endlich notdürftig gesäubert und betrachtete jetzt den toten Berber. Panik überkam ihn, Entsetzen machte sich in ihm breit, die nackte Angst packte ihn.
Eine unbekannte, gänzlich neue Angst, nie zuvor so verspürt. Und sie stieß ins Ungewisse, diese Angst, sie war nicht so richtig greifbar und auch nicht so richtig in Worte zu kleiden. G. Zwolle rannte so rasch wie nur irgend möglich heim. Wieder versäumte er die Arbeit – und er ging auch am folgenden Tag nicht hin. Eine seltsame Wandlung machte sich beim Haushaltsvorstand und Versorger dieser kleinen Familie bemerkbar. Gebhard Zwolle vernachlässigte seine Pflichten, sein Äußeres und seine Prinzipien, ließ sich am Telefon verleugnen, warf sein Handy in die Mülltonne seiner Nachbarn, die auch seine Mieter waren, saß nun immer häufiger, und dann sogar täglich auf „seiner“ Parkbank an der Haltestelle der Linie 15, von morgens früh bis zum späten Abend. Er hörte weder auf die Vorhaltungen seiner Frau, noch auf die Mahnung seiner Eltern, noch auf die immer erboster formulierten Briefe seines Chefs und Mentors im Betrieb – und schon gleich gar nicht auf die wenigen Freunde, die ihn „zur Vernunft bringen sollten“, nach Maßgabe der liebenden Gattin. Die vielen Warnungen und die sehr ernst gemeinten Hinweise seiner wichtigsten Kollegen, der „Untergebenen“ und des 1. Prokuristen, die bezüglich seiner Arbeitsstelle sehr, sehr eindringlich ausfielen, ignorierte er geflissentlich. Leugnen gehörte ab sofort zur Basis seiner kompletten Existenz, die mehr und mehr verkümmerte.
Schließlich wurde ihm gekündigt. Doch dafür interessierte sich Zwolle längst nicht mehr. Er hatte zu trinken begonnen. Gierig. Mit jedem Schluck, das spürte Zwolle, wuchs die Abhängigkeit von diesem Stoff.
Er saß auf seiner Parkbank, man gewöhnte sich an ihn, er sprach viel mit sich selbst, und er begann folgerichtig mehr zu trinken. Zwolle verkam zusehends, und zwar innerlich wie äußerlich. Zuhause hielt er es kaum noch aus. Aus seiner liebevoll agierenden Gattin war eine allzeit nörgelnde und stetig kritisierende Ehefrau geworden, die zum Ende dieser Geschichte hin bei seinem Anblick nur noch in ein haltloses Schluchzen ausbrach, die in den Nächten, da Zwolle sich „herumtrieb“, in die Kissen der ehelichen Bettstatt heulte und trotz einer recht verzweifelten Suche nach der Antwort auf die unendlich vielen Fragen, die sein Verhalten bei ihr auslöste, keine auch nur annähernd befriedigende Erklärung fand. Immer öfter blieb Zwolle über Nacht aus, immer weniger wurde er daheim vermisst. Es ist schon eine seltsame und doch auch relativ einfache, simple Struktur im gesellschaftlichen Rahmen des menschlichen Lebens – ein missing link wird nicht lange vermisst; so schnell findet man sich zu neuer Ordnung zusammen, so wahnsinnig schnell findet diese neue Ordnung den neuen Anführer; Griseldis Zwolle war nun der Haushaltsvorstand, Finanzchef und Hüter der kleiner werdenden Familie in einem. Und sie machte diesen Job nach nur kurzer Anlaufzeit so gut, als habe sie in den letzten 12 Jahren ihrer Ehe eigentlich nie etwas anderes getan. Not gebiert Tugend. So lief der Laden also, Zwolles Frau hatte alles fest im Griff. Sonntags ging man immer noch, ohne Zwolle, in die Kirche. Diese neue Ordnung wurde immer dann geprüft, wenn das ehemalige Familienoberhaupt doch einmal nach Hause zu kommen die frechdreiste Stirn besaß. Denn, wenn er kam, dann zu unmöglichen Zeiten, oft zur nachtschlafenden Zeit, sehr oft (und immer öfter) in unmöglichem Zustand, der vor den Nachbarn (und Mietern), vor den Kindern und vor den Freunden kaum zu verbergen war – obschon Griseldis Zwolle jedes Mal sofort alle Vorhänge zuzog, wenn ihr uniformierte und deutlich amüsierte Beamte erneut den jetzt immens ungeliebten Ehemann in hilflosem Zustand übergaben, komplex stinkend und, wie stets, volltrunken lallend. Nun, sie schämte sich seiner und war gar nicht einmal unglücklich darüber, als Zwolle dann eines Tages recht lauthals verkündete, nur noch auf „seiner Parkbank“ zu nächtigen. Längst hatten die beiden Kinder Angst vor ihrem Vater, längst hatte sich Heiner, ehemals der beste Freund Zwolles, der zur großen Form auflaufenden Griseldis angenommen, längst waren die Finanzen neu und auf erlösend positive Art geregelt, und so hatte niemand etwas dagegen, als „dieser Kerl“, so wurde er im Haushalt Zwolle nur mehr genannt, nicht mehr nach Hause kam. Heiner ließ alsbald die Schlösser austauschen, was sich noch als sehr sinnvoll herausstellen sollte.
Und so geschah es: Letztlich blieb Zwolle nun tagsüber und auch zur Nachtzeit seiner Parkbank treu. Bärtig, mit trunken-tumbem Blick und stark aufgedunsenem Gesicht, das schweinchenrosa Vollmondgesicht des Permanent-Spiegel-Kampftrinkers, saß Zwolle nun Tag für Tag dumpf vor sich hinbrütend, brabbelnd und sabbernd, auf dieser Bank am Park und wartete auf das Unmögliche, nie Eintretende: Nämlich darauf, dass jenes Individuum wenigstens 1 x noch würde erscheinen können, um ihm diese oder auch eine gänzlich andere Frage beantworten, um ihm dies und das erklären zu können. Die Fragen, zuvor so fundamental und existenziell, einst wohl und gut formuliert, waren Zwolle längst entglitten, die Erklärungen schienen mit der Zeit nicht mehr gar so drängend zu sein, alles ebbte ab, alles „ergab sich“ nach und nach. Es wurde völlig belanglos. Andere Dinge wurden wichtig. Das Geld für die tägliche „Bombe“ wurde wichtiger als die Frage, woher die nächste Mahlzeit kommen könnte. Anfangs ließ er sich noch bei der Neustadter „Tafel“ blicken, besuchte eine Suppenküche, wurde vorstellig im Asyl für Obdachlose, später wurde all dies nichtig und bedeutungslos, es war egal, ihm war alles „eins“. Total egal… In helleren, lichten Momenten gab es sie noch, diese Fragen, für die Zwolle keine Antworten, keine Erklärungen fand, Fragen, auf die Zwolle trotz recht angestrengten Nachdenkens, das ihm immer schwerer fiel, er konnte einen Punkt im Kopf nicht lange festhalten, keinen Gedanken auf Dauer an sich binden, keine Antworten fand, und somit folgerichtig, nach und nach, auch aufhörte, über diesen Fragen zu grübeln und zu meditieren. Das Endstadium war erreicht. Und der Leser wird überrascht sein, wie schnell solch ein Abstieg vor sich geht. In nur 7 ½ Monaten war es geschafft, die Metamorphose vom smarten Erfolgstyp zum absoluten Niemand, zum stinkenden, bedauernswerten Penner und, schließlich, zu einem Wrack. Aufgedunsen, unfähig zum Dialog, stinkend, rülpsend, furzend und innerlich verwesend, so saß Zwolle auf der Bank und dachte überhaupt nicht mehr nach. Meinetwegen sollen sich die anderen die Köpfe zerbrechen, ich habe meinen nur noch dazu, „Bombentränen“ einzusaugen, aufzunehmen, einzugluckern. Billigen Alkohol in mich einzuflößen, das ist mein einziger Lebensinhalt, mein Lebenssinn und -zweck, einen anderen Sinn sehe ich nicht mehr im Leben. Nichts geschah und niemand kam. Man mied Zwolle, jenes extrem stinkende Bündel Mensch, das, seiner Würde und der Selbstachtung beraubt, ein ziemlich sorgenfreies Leben führte, oft fror und mitunter heulte (ohne dies jedoch wirklich wahrzunehmen). Die Frage nach neuer Unterwäsche und neuen Socken, sie stellte sich nicht. Die Notwendigkeit, in immer gleichen Klamotten sein Leben fristen zu müssen, entledigt quasi allen Gedankenguts der Basis: Wie komme ich an frische Wäsche? Gleichmütig wird akzeptiert, dass frische Wäsche kein Thema ist. Ich stinke, also bin ich. Und wenn ich selbst den Gestank aushalte, ihn anzunehmen bereit bin, so bedeutet dies doch auch, dass "das System soweit funktioniert".
Man ging Zwolle aus dem Weg, wo es nur irgend möglich war. Seine Frau hatte längst die Scheidung eingereicht und ihm Hausverbot erteilt, seine Kinder machten einen weiten Bogen um die Haltestelle der Linie 15 am Park. Der Respekt einflößende Mensch Dr. Gebhard Zwolle hörte an dem einen Tag zu existieren auf, und das Individuum Zwolle verfiel bis zur totalen Unkenntlichkeit, nichts mehr erinnerte an jene faszinierende Persönlichkeit, die ihr Leben voll im Griff zu haben schien, glatt rasiert und klaren Blicks, der mit beiden Beinen voll auf dem Boden der Tatsachen gestanden hatte, der Habitus, Status, positive Attitüde und starke Contenance auszustrahlen in der Lage war, der Herr über Haus und Familie gewesen ist. Es bedurfte nur einer einschneidenden und allerdings sehr extremen Situation, um alles zu verändern und Zwolles Leben innerhalb von nur 31 Wochen aus der völlig geordneten Umlaufbahn ins gnadenlose Chaos der allumfassenden Unwägbarkeit zu werfen. Auf Crash- und Konfrontationskurs. Immer steil bergab.
Als der ehemalige Gebhard Zwolle, wie ihn seine Frau Griseldis bei Eheschließung kennengelernt hatte, eines Tages, es war möglicherweise noch recht früh am Morgen, das konnte er nicht überblicken (seit er seine Uhr versetzt hatte, war ihm jegliches Zeitgefühl abhanden gekommen), mit immanent schlimmem Kater und entsetzlich verfaultem Taubgeschmack im Schlund ächzend, stöhnend und wuchtig grunzend auf seiner Bank erwachte, war es ihm so, als würde er beobachtet. Auf der freien Bank nebenan saß ein Herr mittleren Alters, enorm gepflegt, wohl duftend und mit sehr markanten Gesichtszügen im fein geschnittenen Antlitz (bartlos rosig-frisch, und ganz hervorragend rasiert), der ihn angewidert fasziniert betrachtete. Ein dicker Klumpen Schleim saß Zwolle im Hals fest. Neugierig den Blick dieses Fremden suchend, zog er hoch und würgte. Er tastete nach der Bombe. Das entsetzliche Gesöff war vom Hersteller "Himmelsträne" benannt worden. Leberkleister par excellence.
Spätherbst. Bald würde es kühl werden. Instinktiv zog Zwolle den Kragen hoch. Ihn fröstelte. Hatte er noch genug Bölkstoff?
ENDE
Ach, dieses unendliche, unerhörte Maß an Verantwortung, es wird leider nicht wahrgenommen...
Kommentare
Wie kann man sich in so kurzer Zeit dermaßen herunter wirtschaften?
Mir unverständlich. Aber, ehrlich, sehr gut geschrieben. Gruß, Paddy
Danke für die Blumen, Paddy und Gerfried. Sitra Achra
bedeutet: Die Seite der Unreinheit, kurz: Andere Seite.
Dankeschön-Gruß von Gherkin
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