SITRA ACHRA - Page 3

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völlig neue Dimension des Begriffes „mir ist schlecht“ zu sein/zu werden. Während nun der von Zwolle als asozial eingestufte Mann dort drüben mit dem rechten kleinen Finger tief in seinem rechten Ohr bohrte, starrte er aus kranken, kleinen, dumpfen, erstaunlich roten, enorm blutunterlaufenen Augen auf Zwolles offensichtliches Bestreben, die drohende Besinnungslosigkeit abzuwenden. Leicht belustigt, und ja, fast schon ein wenig triumphierend schien der Blick des eben erst Erwachten. Ein Speichelfaden fand wie in Zeitlupentempo den Weg zum dichten, Unrat durchwirkten Bartgestrüpp. Doch mehr noch lag im Blick des menschlichen Wracks: Da Angewidertsein eine gewisse Form der Faszination nicht gänzlich auszuschließen in der Lage ist, konnte Zwolle im Kampf gegen das Aufbegehren seines reinlichen und gepflegten Körpers angesichts dieser für ihn albtraumhaften Vorgänge neben ihm nicht wegsehen, nein, wie unter Hypnose suchte er den tumben Blick des Mannes aus dieser für ihn anderen, kaputten, grotesken und surrealen Welt. Er las trotz seiner permanenten Übelkeit (oder glaubte doch zumindest, dies aus dem Blick des Anderen schließen zu können), dass das Wrack in düster-hilflosem Neid und in unbezwingbarer Gier nach dem sicher Unerreichbaren hier eine Art trauriger Ersatzbefriedigung fand – in Zwolles Ekel angesichts solcher Existenzpräsentation (schonungslos, absolut und enthemmt, Grenzfälle der menschlichen Lebensform radikal aufzeigend und dennoch auch irgendwie persiflierend/konterkarierend) sah der Obdachlose wohl eine Chance zur Kompensation seines eigenen, nicht gerade zufriedenstellenden Schicksals. Der Magen rebellierte, der Brechreiz wurde fast übermächtig, Hitze stieg in Zwolle hoch.

Eben hatte das Wrack zu husten begonnen. Es hörte sich fast so an, als würde ein recht altersschwacher Motor mit fast leerer Batterie gestartet. Aus tiefstem Inneren grollte und rollte ein heiseres Krächzen heran, versuchte, eine Art Hustenlaut daraus hervorzubringen, ohne jedoch den hierzu benötigten Ton fassen zu können, erstarb im Ansatz, um dann kurz darob in einem neuen, noch angestrengteren Anlauf leiernd auszubrechen. Der Mann mühte und plagte sich, hochrot bereits der massige Schädel, in Richtung Magenta tendierend, doch mehr als ein trocken rebellierendes Bellen entfuhr dem weit aufgerissenen Rachen nicht. Nach etlichen brutalen Startversuchen, stetig wiederkehrendem Abwürgen, heiserem Leiern im Hustenniemandsland, und nach schwer röchelndem Luftschnappen in den kurzen, bangen Pausen dazwischen, schienen dem konvulsivisch durchgebeutelten Mann nun vollends die Augen aus den Höhlen springen zu wollen. Die Adern an den Schläfen verdickten sich jetzt zu fingerbreiten Strängen, bläulich-rot, zu fetten, pulsierenden Wattwürmern, in das bereits von der Anstrengung völlig verzerrte, violette Gesicht kam Bewegung. Gewaltige Emotionslandschaften durchwogten das Antlitz, rollende Augen, stark hochgezogene, wildbuschige Brauen, Schütteln und Schleudern des gewaltigen Kopfes... Endlich kam dann doch noch der mühsam erarbeitete erste und leidlich geglückte Hustenlaut zustande. Jetzt erst löste sich die Anspannung des Mannes, er schien endlich zufrieden. Ein dritter Flacken gewaltigen Ausmaßes gesellte sich zu den bereits zuvor produzierten Schleimklumpen am Boden. Zwolle übergab sich.

Während des Würgens und Spuckens glaubte er, ein heiseres, höhnisches Kichern zu hören, das keinem menschlichen Rachenraum zu entspringen schien, doch war es viel zu leise, um exakt bestimmt werden zu können. Nachdem sich Zwolle einigermaßen gereinigt hatte, schaute er sich nach allen Richtungen um, ob ihn auch niemand beobachtet und bei der für ihn äußerst peinlichen Szenerie etwa erkannt hätte. Außer seinem Banknachbarn konnte Zwolle jedoch niemanden ausmachen, es war kein Mensch weit und breit zu sehen. Erleichtert, aber auch sehr erschöpft, aschfahl im Gesicht, ließ sich Gebhard Zwolle wieder auf die Parkbank zurücksinken, von der er beim ersten Strahl des so urplötzlich aus ihm heraus geplatzten Erbrochenen aufgesprungen war. Mit seinem zweiten Taschentuch, Zwolle führte stets zwei absolut saubere und täglich ausgetauschte, sorgfältig gefaltete Stofftaschentücher mit Initialen, einem gestickten Monogramm, bei sich, wischte er sich nun den kalten, perlenden Schweiß von der hohen Stirn. Seine Frau Griseldis nannte die Tücher "Sacktücher", was ihm sehr missfiel. Sie war aus Schwaben, sprach auch heute noch, nach über einem Jahrzehnt in Nordrhein-Westfalen, mit einem breiten schwäbischen Akzent. Das vollkommene Glück scheint es in dieser Welt einfach nicht zu geben.

Als Zwolle sich die Brille wieder aufsetzte, wie immer auf eine nahezu enervierend umständliche Art (zuerst stülpte er mühsam die beiden Bügel über seine großen Ohren, dann schob er, wie bei einem Ritual, mit einem kecken Druck des rechten MIttelfingers, die Brille an den richtigen Platz auf der Nase), musste er jedoch feststellen, dass das menschliche Wrack verschwunden war. An diesem Tag ging Gebhard Zwolle nicht mehr zur Arbeit. Ein Affront. Eine Zäsur. Ein Sakrileg. Punkt.

Die Werkstatt betonte, man wolle den Opel gern bevorzugt behandeln, dennoch müsse er, Zwolle, mit mindestens 3 Tagen Reparaturzeit rechnen. Denn gerade bei nahezu fabrikneuen Wagen sei der Defekt oftmals nur sehr schwer auszumachen, hier sei ein umfassender Check vonnöten, ein Generalcheck. So also sah sich Gebhard Zwolle gezwungen, erneut respektive zum ersten Mal überhaupt auf den Bus der Linie 15 zurückzugreifen. Sein erster Gedanke am anderen Morgen war, er hatte sein Erlebnis Zuhause mit keinem Wort erwähnt; sein Unwohlsein hatte die Gattin stark beunruhigt – und nur mit Mühe war der Anruf beim Hausarzt zwecks Terminvereinbarung verhindert worden, eine etwas weiter entlegene Haltestelle dieser Linie als Wartepunkt zu wählen. Er war besser vorbereitet, hatte jetzt auch das Handy dabei.

Doch eine in keiner Weise zu erklärende Magie aus dem seltsamen Zusammenwirken von Neugierde, Faszination des Grauens und diesem befremdlichen Drang, das gestern Erlebte wirklich und real bestätigt zu bekommen, trieb es Zwolle erneut zu genau jener Haltestelle am Park. Von weitem schon sah er die bekannte Gestalt des Berbers, der, bereits erwacht, in sich zusammengesunken auf der Bank mehr hing als saß, und gerade, da Zwolle ihn einwandfrei identifizierte, aus einer großen 2-Liter-Flasche Billigrotwein, ein Verschnitt aus mehreren europäischen Ländern, zu trinken begann. Dabei schien er nicht zu schlucken, er ließ die Flüssigkeit gluckernd laufen, mit nur mäßigem Adamsapfeltanz. Stark schmatzend und gurgelnd ergoss sich der Inhalt in den aufnahmebereiten Schlund des Wracks. Zwolle ging unbeirrt und recht zielstrebig auf die freie, zweite Bank zu und setzte sich. Der Mann hatte die Flasche komplett ausgetrunken, leicht bedauernd prüfte er diesen Tatbestand. Da war einerseits die leere Flasche, „Bombe“ genannt, die doch eine gewisse Traurigkeit auszulösen schien, andererseits die Vorfreude auf die relativ

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Kommentare

06. Jul 2020

Wie kann man sich in so kurzer Zeit dermaßen herunter wirtschaften?
Mir unverständlich. Aber, ehrlich, sehr gut geschrieben. Gruß, Paddy

06. Jul 2020

Danke für die Blumen, Paddy und Gerfried. Sitra Achra
bedeutet: Die Seite der Unreinheit, kurz: Andere Seite.

Dankeschön-Gruß von Gherkin

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