Das Karussell der Verlorenen (Teil 1)

Bild von Naduschka Kalinina
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Ich bin verrückt, Fremder. So viel dazu. Ich bin jetzt nicht die Art von verwirrter Irrer, der in dreckiger Unterwäsche in der U-Bahn sitzt und drei kaputte Paar Kopfhörer trägt, sondern eher der dezente Wahnsinnige mit den sauber polierten Lackschuhen und dem 1000-Dollar-Lächeln. Ich sitze hier in diesem schäbigen Imbiss und kritzel diese Nachricht. Wieso? Weiß ich gar nicht so genau. Ich weiß nur, dass ich immer weiter meinen Verstand verliere. Immer ein bisschen mehr. Tag für Tag. Nacht für Nacht. Ich habe mir meinen Namen auf den Unterarm geschrieben, wasserfest, weil ich Angst habe morgen aufzuwachen und nicht mehr zu wissen, wer ich bin. Es gibt niemanden, der mich daran erinnern könnte. All meine Freunde sind weg. Verschwunden. Wobei ICH es bin, der verschwunden ist. Ich wurde aus der verdammten Realität geschnitten, wie das F***- Wort aus dem amerikanischen Fernsehen. (Scheiße, da schau sich doch mal einer diesen geschriebenen Schwachsinn an.) Ich bin auf dem besten Weg unter die Räder zu kommen. Der Gehängte hat mich vor so etwas gewarnt. Wobei, der Idiot hat eigentlich keine Ahnung von nichts. Es war immerhin seine saudumme Idee gewesen, dass ich zum Stern gehen soll. Totaler Reinfall. Diese miese Schlampe hat mich sauber über das Ohr gehauen und jetzt weiß ich noch weniger als zuvor. Der Narr klebt mir zudem immer noch am Arsch, ganz die Nervensäge. Der Kerl hat eine ungesunde Beziehung zu seinem Hund. Er teilt sich gerade einen Kaffee mit dem Vieh - aus der gleichen Tasse. Widerlich, wie der Hund sabbert und schlabbert. Ich mag diesen Köter nicht. Ich schwöre, ich hacke ihm seine Eier ab, wenn er noch EINMAL mein rechtes Bein für eine läufige Hündin hält. Ich ertrage diesen Irrsinn nicht mehr. Ich will mein Leben zurück. Mein altes ICH. Meine letzte Hoffnung ist die Sonne. Die Sonne hat Antworten, sagen zumindest alle. Darauf bauen tue ich nicht. Die spinnen hier. Alle.

Wer auch immer du bist, sei gewarnt. Halte dich von dem Karussell fern. Mit dem Rad des Schicksals* spielt man nicht.

Halt dich davon fern.

Halt dich -

fern.

(Zerknitterter Zettel mit undefinierbaren Flecken)

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VORSPIEL - ODER - DIE MÜDIGKEIT DES VLADISLAV KERMIN

Vlad verabscheute skeptische Menschen. Skeptiker unterschrieben, wenn überhaupt, erst nach gefühlt hundert Anläufen, lasen das Kleingedruckte gleich mehrmals mit der Lupe durch und hinterfragten alles, was Vlad von sich gab. Jedes Wort wurde auf die Goldwaage gelegt und jedes angebotene Versicherungspaket wie radioaktive Scheiße begutachtet. Nun, zugegeben. Die meisten dieser überteuerten Pakete waren Beschiss. Wenn man die Leistungen mit den Wahrscheinlichkeiten und den Kosten verglich, kam man als normal intelligenter Mensch rasch zu der Erkenntnis, dass der angebotene Vollzeitschutz vor Meteoriteneinschläge nicht gerade die sinnvollste Investition aller Zeiten war. Zudem schloss die Versicherung ohnehin den direkten Ersatz sämtlicher beschädigter Gegenstände aus und zahlte, wenn denn tatsächlich ein galaktischer Gesteinsbrocken durch das Hausdach krachen sollte, nur dem Grundbesitzer Geld. Und das auch nur, wenn der Meteorit den Anstand hatte und während des helllichten Tages einschlug – und nicht in der Nacht. Nachtklausel war das Zauberwort. Vlad liebte Zauberwörter.

«Ich verstehe das nicht.» Frau Barsukowa warf ihrem Mann einen irritierten Blick zu. «Wieso müssen wir einen so hohen Selbstanteil zahlen? Zusätzlich zu den Beiträgen?»

«Nun, lassen Sie es mich so erklären -», setzte Vlad charmant an, wurde jedoch harsch vom Ehemann unterbrochen.

«Der Scheiß beweist, dass diese Versicherung für den Arsch ist. Ich habe es dir gesagt, Schatz. Wir brauchen so einen Quatsch nicht.»

Frau Barsukowa schnaubte. Sie war eine dünne und blasse Frau und hatte einen Faible für ausgefallene Mode. Sie trug einen gelben Pullover zu einem grünen Rock und glaubte scheinbar, dass Zöpfe auch noch bei Frauen über dreißig attraktiv waren. Um ihren dünnen Hals hing eine bunte Kette aus Federn und Perlen. Frau Barsukowa sah aus, als wäre sie die letzte Überlebende einer Explosion in einem Dritte-Welt-Laden.

«Deine Mutter lässt ständig den Gasherd an», fuhr sie ihrem Mann über den Mund. «Sie raucht im Wohnzimmer. Heute morgen musste ich das Wasser im Bad abdrehen, nachdem sie geduscht hat. Sie ist alt und vergesslich und wenn du nicht willst, dass wir bei einem von ihr verursachten Brand oder Wasserschaden alles verlieren, kümmern wir uns um eine verdammte Versicherung.»

«Von mir aus, aber sicher nicht so einen Abzocker-Mist. Diese ganze Nummer ist eine einzige Verarsche. Mein Freund Jurij zahlt nicht mal halb so viel, wie uns dieser Hund hier abknöpfen will.»

«Jurij wohnt ja auch noch bei seiner Mutter in Nowodwinsk. Nicht in einem Neubau in der Stadt.»

«Ich wollte ja eh nicht in die Stadt», knurrte Herr Barsukow. «Aber nein, du wolltest ja unbedingt nach Moskau.»

«Bitte? Wir haben diese Entscheidung gemeinsam getroffen!»

«Pah. Du hast mich zwei Wochen lang beleidigt angeschwiegen, als ich dir ehrlich gesagt habe, was ich von Moskau halte.»

«Deine Mutter ist bei uns eingezogen!» Frau Barsukowa warf die Hände in die Luft. «Deine garstige und senile Mutter! Was willst du eigentlich noch von mir, du übergroßes Müttersöhnchen?»

Vlad wusste, wann er verloren hatte. Er suchte rasch seine Unterlagen zusammen, welche auf dem Küchentisch verteilt lagen, und war quasi schon in seinem Mantel und zur Tür raus, als der Ehestreit richtig in Schwung kam. Geschirr klirrte irgendwo hinter Vlad und er machte, dass er zum Fahrstuhl kam. Das Teil war neu, so wie alles in dem recht schmucken Hochhaus. Nicht viele Menschen konnten sich einen solchen Standard in dieser Stadt leisten. Selbst Vlad, der sieben Tage die Woche gefühlt Rund um die Uhr arbeitete und einen netten Zuschlag an jeder abgeschlossenen Versicherung verdiente, lebte in einem Schuhkarton mit Ausblick auf die gegenüberliegende Häuserwand. Der Fahrstuhl kam und Vlad schlüpfte hinein, gerade in dem Moment, als ein äußerst zorniger Herr Barsukow an der immer noch offenen Wohnungstür auftauchte.

«Sie verdammter -»

Die Türen des Fahrstuhls schlossen sich, noch ehe der zornige Mann irgendeine Dummheit begehen konnte. Vlad lehnte sich frustriert zurück, als sich der Fahrstuhl in Bewegung setzte. Das war’s wohl mit seiner Provision. Unzufrieden trat Vlad nach draußen. Auf der Straße herrschte das übliche Chaos aus zu vielen Autos, zu vielen Menschen und zu wenig Platz. Vlad verabscheute Moskau, dennoch war es der Ort, zu dem alle krochen, ächzend

*Das Rad des Schicksals: Tarotkarte, die für den stetigen Wandel und alle Veränderungen im Hier und Jetzt steht. (Kernaussage: Ende einer Lebenssituation, Neubeginn, Instabilität.)

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