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schnell einsetzende Trunkenheit, die ja immerhin gute 60 Minuten anzuhalten in der Lage war. Sicher und vor allem dadurch ausgelöst, dass hier gute 600 ml innerhalb von nur 12 Sekunden die Kehle hinabgestürzt worden waren. Alles zusammen ergab, summa summarum, eine Patt-Situation im verschwurbelten Hirn, denn die Emotionen glichen sich hier nahezu aus.
Übermäßige Freude und grenzenlose Trauer zur selben Zeit, das ergibt? Richtig: Eine Art Normzustand, business as usual. Jetzt ließ das Wrack die Bombe achtlos neben die Bank fallen, grinste Zwolle erkennend an, wie einen alten Bekannten oder einen willkommenen Saufkumpanen, und begann hernach umständlich, sich den linken Schuh auszuziehen. Ein vor Schmutz starrender, sockenloser Fuß kam zum Vorschein, der nun fast liebevoll befingert und betätschelt wurde. Beim näheren Hinsehen bemerkte Zwolle, wie der Typ sich konzentriert mit dem linken Mittelfinger die Zehenzwischenräume säuberte, und das jeweils zum Mini-Kügelchen geformte Schmutzprodukt befriedigt anglotzend, um es hernach, Zehe für Zehe die gleiche Prozedur, im hohen Bogen wegzuschnippen. Das jetzt aufkommende Unwohlsein bekämpfend, wandte sich Zwolle etwas ab und nahm sich vor, den Penner diesmal nicht zu beachten – doch gelang es ihm nicht. Er erwischte sich schon kurze Zeit später dabei, wenigstens die sämigen Schleimpfützen vor dem Wrack auf der Nebenbank zu zählen. Er entdeckte zwei (sein Nachbar rülpste gerade gewaltig, in seinem riesigen Bauch gluckerte und rumorte es unausgesetzt) und stellte sich innerlich schon auf die dritte Nervenvergewaltigung am frühen Morgen ein – und prompt kamen, zusammen mit krachenden Rotweinfürzen, die bekannten Grunz-, Röchel- und Würgetöne, durch ein heiseres Krächz-Bellen unterbrochen.
Wieder musste Zwolle hinsehen, er hatte absolut keine Chance, sich der Faszination des Horrorgemäldes zu entziehen. Das Wrack hatte besonders intensiv hochgezogen, durchgekaut und gesammelt, es lief zur Hochform angesichts des ihm jetzt schon bekannten Betrachters auf, doch statt des dritten Schleimklumpens spie dieser Unbeschreibliche nun Blut aus – dunkles, dickflüssiges Blut, viel davon, und durchzogen mit Fädchen aus Speichel und Schleim. Und auch aus dem rechten Nasenloch troff es schwer herab, hier war das Blut noch deutlich dunkler, noch zähflüssiger. Der Berber wischte es grinsend aus dem ungemein schmutzigen Gesicht, in welchem kaum noch eine Form von Mimik auszumachen war, beugte sich nun vornüber, sich zuvor vergewissernd, ob der Banknachbar auch zusah, um nun einem langen Blutspeichelfaden, der sich nicht vom Mundwinkel trennen mochte, die Gelegenheit zu geben, sich endlich vom etwas geöffneten Maul zu lösen – und japste plötzlich auf. Erschrocken fuhr Zwolle zusammen und sah, wie das Wrack unendlich langsam einknickte, einsackte, implodierte, schließlich zur Seite kippte und dann von der Bank rutschte, in ‚slow motion’, dabei ständig den Blick Zwolles suchend, bis zuletzt, da ein Blickkontakt nicht mehr möglich war. Unfähig, sich überhaupt zu bewegen, musste Zwolle mit ansehen, wie das zuckende Bündel Mensch vor seinen Füßen zu existieren aufhörte, vom Menschen zum Kadaver mutierend. Ein leichtes Zittern durchströmte den erschlafften Körper noch, ein kurzes Seufzen war zu hören, ein letzter, knatternder Furz entwich dem bereits leblosen Wrack, dann lag dieser "Unerhörte" , wie Zwolle ihn für sich selbst nannte, ruhig. Die speckig glänzende Jacke war zur Seite gerutscht und gab den Blick frei auf ein altes, in ziemlich desolatem Zustand befindliches T-Shirt mit der für Zwolle äußerst beunruhigenden Forderung "Legalize Crime!" . Er dachte nur kurz über diesen für ihn sinnfreien Schriftzug nach, dann sickerte die Tatsache langsam in seinen Verstand ein: Der Mann dort, dieses Wrack, war tot. Mausetot. Jetzt, plötzlich, würgte es in ihm. Er sah Blut aus dem linken Ohr des unzweifelhaft Toten tropfen.
Gebhard Zwolle sprang gleichwohl ziemlich abrupt auf, beugte sich vor, den von der treusorgenden Gattin liebevoll ausgesuchten Schlips heftig an den Bauch pressend, und übergab sich endlich. Der frische Mageninhalt ergoss sich exakt über den bereits verkrustet getrockneten Fladen des Vortags, wieder ein Gemenge aus Milchkaffee, Knusperflakes und Früchteshake. Sah wie der Bärlauchfladen einer bekannten Bäckerei aus Feldmark aus. Merkwürdigerweise dachte Zwolle gerade an den Preis für solch einen Fladen: 1,95 EUR. Keuchend verharrte der ewige 2. Prokurist einige Minuten in der vornüber gebeugten Haltung, mit spitzen Fingern nach den zwei Sacktü... äh, Taschentüchern tastend. Er würde wohl heute beide brauchen.
Da ertönte hinter ihm, so gänzlich unerwartet, die schrille Stimme einer älteren Frau: „Sie sollten sich was schämen, Sie… Ich kenne Sie doch? Wohnen Sie nicht dort drüben, in den Arkaden? Also wissen Sie… Es ist erst kurz nach 8 Uhr morgens – und Sie beide, Ihr Kumpan und Sie, sind bereits vollkommen besoffen! Es ist nicht zu fassen! In was für einer Welt leben wir bloß, ich bin nur froh, dass mein Mann selig solch eine Unglaublichkeit nicht mehr hat erleben müssen. Und dabei sehen gerade Sie, ja, Sie meine ich, im Anzug, gar nicht mal wie so ein Stadtstreicher aus. Sie entsprechen überhaupt nicht dem typischen Bild eines… eines Penners. Gehen Sie in sich, Mann, suchen Sie sich eine Arbeit und schauen Sie, dass Sie endlich vom Alkohol loskommen. Wenn Sie erst vom Suff weg sind, regelt sich der Rest doch wie von selbst, Sie werden sehen. Bitte glauben Sie mir, Sie können es schaffen! Der dagegen (hier zeigte die resolute ältere Dame mit knochigem Zeigefinger auf den tot daliegenden Mann neben der zweiten Bank, wobei ihre Stimme wieder anklagend geworden war, wo sie noch eben, bei der langen Rede an die Adresse Zwolles, einen durchaus eher besänftigenden, nur leicht mahnenden Unterton aufgewiesen hatte, jedenfalls nach dem ersten, empörten Ausruf ‚Sie sollten sich was schämen’), der da, ist ja wohl bereits hoffnungslos kaputt, dem kann keiner mehr helfen!“ Wenn sie wüsste, wie Recht sie damit hat, dachte Zwolle ein wenig amüsiert und doch auch deutlich voll der Scham. „Kehren Sie um, damit Sie nicht enden wie der da“, hub die alte Vettel erneut an (das dachte Zwolle tatsächlich, und er schämte sich im gleichen Moment dafür) und zeigte wieder mit dem knochigen Finger auf den Toten, anklagend und erbost, „kehren Sie um, Mann, bevor es zu spät ist!“ Da Zwolle sie weder groß beachtet noch einer Antwort für würdig befunden hatte, entfernte sich die Frau kopfschüttelnd und brabbelnd, vereinzelte Satzfetzen drangen noch an Zwolles Ohr: „Undankbares