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sich spontan, und Spontaneität war nun wirklich nicht sein zweiter Vorname. Kein Taxi.
Abenteuer würzen den Eintopf der Belanglosigkeiten im Leben. Warum sollte er, Zwolle, nicht auch einmal etwas zu spät zur Arbeit kommen?!? Mein Leben, es verläuft in absolut geraden Bahnen, ja, ich bin fast geneigt zu sagen, es ist sogar ein wenig eintönig, einförmig, fad. So sinnierte er vor sich hin. Da tut etwas Unruhe wohl, philosophierte Zwolle weiter, hernach weiß man umso mehr die soliden Grundpfeiler seiner gesicherten Existenz zu schätzen. Also fand sich Zwolle ab und sprach gönnerhaft sich selbst einigen Mut zu, indem er halblaut vor sich hin murmelte: „Wie kann ich je vermisst werden, wenn ich doch immerzu Präsenz demonstriere, permanent anwesend bin?“ Diese beinahe rebellischen Gedankengänge mit einem vagen Schmunzeln verscheuchend, suchte sich Zwolle eine Sitzgelegenheit, um die nächste halbe Stunde bequem überdauern zu können. Dann fiel ihm der Anruf ein. Er schaute sich um. Obschon er nur wenige Minuten von hier entfernt wohnte, war er doch an diesem Ort noch nie gewesen. Nirgendwo eine Telefonzelle, so musste ein Telefonanruf entfallen, denn er hatte aus gewissen Erwägungen heraus, die jetzt und hier nicht näher erläutert werden sollen, auch das Handy nicht dabei. Sollten sich sein Chef und die Kollegen und Untergebenen ruhig etwas Sorgen machen. Der nicht sonderlich gefürchtete Zwolle nannte seinen Mitarbeiterstab für sich persönlich stets „die Untergebenen“, offen hätte er diese Bezeichnung aber niemals gebraucht.
Schlimmer war, dass seine stets sehr gewissenhaft unterrichtete „Heim-Organisation“, sehr engagiert von der Ehefrau geleitet, jetzt nicht informiert werden konnte, die sonst über wahrlich jeden seiner Schritte und Termine exakteste, minutiöse Angaben erhielt. Jetzt dachte Zwolle schon daran, die etwa 800 m bis zu seinem schmucken Haus zu laufen; etwas unsicher machte er sich auf den Weg – da bemerkte er sie! Er wollte heim, um dort die restlichen Minuten bis zur Abfahrt des Linienbusses zu verweilen.
Doch da...
Da sah er die Bank. Sie stand etwas abseits von der Haltestelle, seltsamerweise waren dortselbst keine Sitzgelegenheiten, am Parkeingang. Zwolle ging nun zur Bank, setzte sich und streckte die Beine aus. Er sah sich um. Etwas begann sich neben ihm, auf der zweiten Bank, zu rühren. Überrascht konstatierte Zwolle nun, dass es sich um ein Bündel Mensch handelte. Es war wohl einer jener Individuen, denen man in der Regel gern aus dem Weg geht. „Der innere Zustand eines Menschen“, so pflegte sich Zwolle gern auszudrücken, auch den „Untergebenen“ gegenüber, aber auch im Familienkreis, „lässt sich leicht am äußeren Gesamtbild ablesen!“ So sprach er gern zu Frau und Kindern und achtete daher Zuhause streng penibel auf Sauberkeit, auf Hygiene, perfekte Kleidung, unauffällig und adrett, und stets auf ein „angenehmes äußeres Erscheinungsbild“. Und seine Ansichten bezüglich des Erscheinungsbildes im Zusammenhang mit der psychischen Verfassung schienen gerade hier zu greifen, schienen sich gerade hier zu bestätigen. Das Bündel auf der Nebenbank entpuppte sich als ein Mann unbestimmbaren Alters; ächzend und schwer röchelnd hievte sich der Mensch von der horizontalen Lage in die vertikale, hielt kurz inne, als suche er nach Anhaltspunkten, die ihm Aufschluss darüber geben könnten, wie er in diese Situation geraten war, schmatzte einige Male, grunzte und quetschte ein paar höchst undefinierbare Laute heraus, furzte dann in kurzen Abständen knatternd etwa gut 1 Dutzend mal, sah sich kurz um, bemerkte Zwolle, den angewidert dreinblickenden Nachbarn dort, und fuhr, diesen fortwährend anstarrend, sich nun mit gelben, zitternden Händen, knorrigen Stümpfen gleich, durchs wirre, Schmutz starrende Haupthaar. Beinahe nachdenklich musterte er den entsetzt glotzenden Zwolle, der alle Gebote der Höflichkeit vergessen zu haben schien. Seine Mutter, aber auch seine Frau, hätten ihm gesagt: „Man glotzt doch nicht so auf andere Leute, Gebhard! Schau doch da nicht so hin… Und mach endlich den Mund zu!“
Beinahe nachdenklich musterte der bärtige Mensch dort drüben den entsetzt starrenden Zwolle, kraulte sich dabei den verfilzten, strähnig-grauweißen Bart und rülpste laut. Dann wandte sich der Mann abrupt ab. Er schien plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, Zwolles Anwesenheit vollkommen ignorieren zu wollen, und ohne ihn weiter zu beachten zog der offensichtlich Wohnsitzlose arg geräuschvoll hoch, brachte gesammelt den so erzeugten Morgenschleim räuspernd zur Zungenspitze, tastete die Bröckchen darin mit Zähnen und Zunge ab – und spuckte hernach, anscheinend ganz zufrieden mit dem Ergebnis, wuchtig aus. Ein dicker, zäher Faden gelblich-braunen Gemenges klatschte mit einem satten Laut vor die Füße des Unbeschreiblichen. Gleich würgte dieser ein zweites Schleimklümpchen zusammen, wieder landete es deutlich hörbar auf dem Boden. Dem letzten, vermutlich toxischen Gemisch war ein Blutfädchen beigegeben, dies schien die volle Aufmerksamkeit des Mannes zu erregen. Er beugte sich unter gewaltigem Gestöhne vor, wobei er seinen mächtigen Wanst anhob und quasi zur Seite schob, tippte den hässlich braun-gelben Zeigefinger mit der stark abgenagten Kuppe in den dickbreiigen Schleimhaufen und rührte ein wenig darin herum, so, als wolle er dem Blutfaden durch das Vermengen weniger oder vielleicht auch gar keine Bedeutung mehr zukommen lassen. Mag sein, er dachte sich dabei, umgerührt sieht dieser Schleim-Blut-Klumpen nicht mehr gar so Furcht erregend aus... Wer konnte schon ahnen, was in einem solchen Hirn vor sich geht? Ging da überhaupt irgendetwas vor sich? Das fragte sich Gebhard Zwolle nun.
Mittlerweile waren höchst unangenehme Gerüche an Zwolles Riechorgan gelangt. Extreme Körperausdünstung, der Gestank der Kleidung und die trockenen Stakkato-Fürze, all dies zusammen ergab einen solch penetranten und für Gebhard Zwolle niemals zuvor bewusst wahrgenommenen Pesthauch des Todes, dass er befürchten musste, sich jetzt und auf der Stelle zu übergeben, ohnmächtig zu werden oder gar beides zusammen. Dies jetzt gleich hier „erleiden“ zu müssen, hier, im Freien, unter den Augen eines anderen Menschen, das konnte und wollte Zwolle nicht hinnehmen.
Er kämpfte sehr heftig dagegen an. Verwesungsgeruch schlimmsten Kalibers überflutete ihn gleichsam, ihm ist selten im Leben so schlecht gewesen. Das war nur vergleichbar mit der miserablen Paella, die er in Ciutadela (auf Menorca), an der Placa d’es Born, zu sich genommen hatte. Keine 20 Minuten später war ihm schlecht geworden. Aufgrund seiner perfekten Spanischkenntnisse hatte er damals eine komplette Mahlzeit für die ganze Familie erstritten, den teuren weichen Brandy aber zurück gehen lassen. Dies hier schien ihm eine
Kommentare
Wie kann man sich in so kurzer Zeit dermaßen herunter wirtschaften?
Mir unverständlich. Aber, ehrlich, sehr gut geschrieben. Gruß, Paddy
Danke für die Blumen, Paddy und Gerfried. Sitra Achra
bedeutet: Die Seite der Unreinheit, kurz: Andere Seite.
Dankeschön-Gruß von Gherkin
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