Heute: Der seitliche Stützfinger
Ab und an schaue ich Talkshows im TV-Dschungel. Gerade jetzt, zu Corona-Zeiten, wird hier viel Information, Meinungsvielfalt und jede Menge Unterhaltung geboten. Gern studiere ich dabei Gestik, Mimik, Körperhaltung und Attitüde der Beteiligten. Gerade bei Markus Lanz (dienstags bis donnerstags im ZDF) bietet sich ein recht breites Spektrum an. Manche Gesichter siehst du zu oft (Stichwort: Vorname Karl!), andere viel zu selten (Stichwort: Sarah Bosetti). Das ganze Spektrum, Diskurs und Debatte, stellt sich hier zur Verfügung. Es geht oft ziemlich hoch her. Entsprechend Gestik und Mimik plus Körpersprache. Gern würde ich ein Buch in Englisch schreiben und veröffentlichen: How to understand Body Language and the Facial Expressions. Especially the stilted-looking index finger on the neck or on the cheek. During late night Talkshows. --- Leider aber spreche ich gar kein Englisch. Das ist sehr schade, denn das Buch würde sicherlich ein Bestseller. Und könnte sogar in Südafrika, Ghana, Singapur, Trinidad und Tobago, Chile, Belize, Kamerun, Panama, Malaysia, in Hongkong und auf den Jungferninseln von wirklich allen gelesen werden. Ein wenig mehr Bildung hätte nicht schaden können. Das hab ich jetzt davon. Kein Englisch, kein Welterfolg mit einem Buch, das großes Aufsehen erregt hätte. Doch kehren wir zurück zu den Talkshows, der Plattform für die sicher absonderlichste Spezies unseres Planeten, den TALKING HEADS (ja, es gab einst eine sehr gute Musikgruppe dieses Namens) der Wichtigtuer und Weltverbesserer, der Ausnahme-Egozentriker und Selbstbeweihräucherer. In diesen Talkshows kann ich nämlich ganz herrlich allerlei Studien betreiben hinsichtlich Body Language und Gestik/Mimik.
Dabei habe ich die sicherlich doppeldämeldümmlichste Geste überhaupt ausgemacht und registriert: Es ist der einzelne seitliche Stützfinger, der sich dann entweder in die Wange bohrt oder irgendwo in der Halsregion endet. Minutenlang. Herrlich beknackt.
Das wird sowohl von Männern als auch, etwas häufiger, von Frauen gebracht. Keiner der Anwesenden ist sich dessen bewusst, dass diese Geste unsäglich und peinlich auf den Zuseher wirkt. Wüßte sie oder er das, käme es erst gar nicht zu dem Einzel-Finger-Einsatz. Erst sehr viel später, wenn die Sendung ausgestrahlt wird, kommt es zum Erkenntnis-Schock: Um Himmels willen, warum mache ich das? Und warum so lange? Das sieht ja furchtbar aus. Ganz schrecklich.
Tiefes Refklektieren? Eine selbstvergessende Geste der schlimmsten Hilflosigkeit? Lange habe ich darüber nachgedacht. Warum sticht ein erwachsener Mensch sich mit Zeige- oder Mittelfinger in die Wange oder in den Hals?? Und zieht dies dann für längere Minuten gnadenlos durch? Ich komme zu der Ansicht, dass sich diese Personen nicht selbst beobachten in solchen Phasen der Diskussion, sich also quasi nicht „voll im Griff haben“, wenn sie lauschen oder sprechen. Es ist eine unbewusste Handlung.
Meist geschieht das, wenn andere sprechen. Aber ich beobachtete auch öfter eine Person, die bei einem Beitrag zur munteren Diskussion den Finger dort beließ, ob nun im Wangen- oder Halsbereich, während seiner kompletten Redezeit. Vermutlich soll das dann ein Laissez-faire oder Laissez passer-Gefühl (lass gehen, lass geschehen) beim Redner demonstrieren, er will sehr reflektiert und extrem ruhig, äußerst cool, zuversichtlich und natürlich auch überlegen auf die anderen Gesprächspartner in der Runde [ein]wirken.
Du kannst natürlich, als Diskussionsteilnehmer, unmöglich mit der kompletten Hand das Gesicht stützen. Das würde signalisieren: Ist mir ja so was von egal, was ihr alle da absondert, ich will nur noch ins Hotelzimmer und mich besaufen! Wer also seinen Kopf schieflegt und mit der ganzen Hand stützt, wird zukünftig nicht mehr eingeladen. Vornehm stützt man daher, die Aussage mag dabei völlig identisch sein, mit lediglich einem Finger ab. Distinguiert und sehr kultiviert, denkt man wahrscheinlich während dieser Geste, wirkt das auf die anderen im Rund. In Wirklichkeit ist es eine extrem unbeholfen wirkende Gestik, sinnentleert und völlig überflüssig. Vor allem aber dümmlich.
Das ist fast so, als würde man sich bei einem lebhaften Disput die Zehennägel zu schneiden erdreisten. Das geht irgendwie gar nicht. Es zeugt von Respektlosigkeit und einiger Chuzpe, auch von großer Arroganz und Instinktlosigkeit, sich so zu verhalten. Bei Lanz führt es jedoch meist zu einem Herdentrieb. Plötzlich stechen sich einige weitere in den Hals oder die Wange. Die Massenpsychologie sagt uns, dass wir so gern nachahmen, Vorgekautes gern übernehmen und Gesehenes sofort ins eigene Repertoire übernehmen. Bei Kindern häufig zu beobachten, wenn sie sich mitunter, unbeobachtet fühlend, wie Erwachsene aufführen, Selbstgespräche führen oder die Mädchen in Mutters Sachen schlüpfen und dann so vor dem Spiegel agieren.
Wenn einer damit anfängt, fahren bald auch einige andere den Einzelfinger aus. Bei Demonstrationen wäre das meist der Mittelfinger, der den Ordnungskräften entgegen gehalten wird, in den Diskussionen handelt es sich da entweder um den Zeige- oder gern auch mal um den Mittelfinger, je nachdem, wie schwer der Kopf ist. Die Damen stechen sich meist vornehm mit dem Finger in den Hals. Vielen ist der Stich in die Wange zu heikel. Sie finden wahrscheinlich den Stich in den Hals weniger auffällig. Oder weniger gewagt. Sie sind einfach zu bescheiden und sittsam, die Damen. Ja, trauen Sie sich nur, liebe Weiblichkeit. Stechen Sie sich in die Wange! Ob oben oder etwas weiter unten, ich kann Ihnen versichern, beides sieht immanent dümmlich aus.
Frivol kann man diese Geste nicht auslegen. Sie scheint mir immerzu tölpelhaft und auch deutlich dekadenter Natur zu sein. Eine unbewusst gesteuerte Peinlichkeit, in jeder der hier angesprochenen Formen entsetzlich entlarvend wirkend. Als ich heute an einem professionellen Foto-Atelier vorbei schlenderte, entdeckte ich zu meinem großen Erstaunen ein Schwarz-Weiß-Foto einer bezaubernden jungen Frau, recht künstlerisch aufgebaut, die Frau in edler Kleidung, mit Stola, die sich, auf einem Sessel sitzend, den Finger, tiefsinnig dreinblickend, in die Wange bohrt. Wenn nun also demnach der künstlerisch angehauchte Fotograf seiner Kundin zugebellt hatte...
Und nun stecken Sie Ihren Finger seitlich in Hals oder Wange, nehmen Sie vielleicht am besten den Mittelfinger der rechten oder linken Hand dazu, sind Sie Linkshänder, nein? Dann nehmen Sie bitte den rechten Mittelfinger, wobei Sie nun mit Daumen und Zeigefinger einen schwachen Kreis bilden, mit dem untersten Glied Ihres sehr knapp unter dem Kinn platzierten Zeigefingers eine Art Polster habend, auf das Sie dann das Kinn vorsichtig aufstützen könnten. Aber bitte nur angedeutet. Ja, so ist´s sehr gut. So bleiben... Nicht bewegen jetzt. Halten Sie die Luft an! Ja, das ist einfach großartig. So bleiben! Exakt 6 Minuten lang! Danke! Das wird in jedem Fachmagazin auf der Titelseite landen, junge Dame! Und ich werde das fertige Foto sogar hier, bei mir, in meinem Schaufenster ausstellen. Doch, das mache ich... Unbedingt. Damit lege ich Ehre ein...
...dann ist er weder der König seiner Zunft, noch hatte er eine Sternstunde der (ein wenig künstlerisch angehauchten) Fotografie eingeleitet. Das ist einfach nur, weiter oben wird es bereits kolportiert, doppeldämeldümmlich. Schrecklich für diese junge Frau, die sich dem Willen des Wahnsinnigen ausgeliefert sah, und nun damit leben muss, für immer mit diesem unsäglichen Foto in Verbindung gebracht zu werden. Ob auf Trauer- oder Freuden-Feierlichkeiten. Dies arme junge Ding wird immerzu auf die Fotografie angesprochen werden. Erniedrigend. Hätte sie das vorher gewusst, also dem Gespött der Menschen hilflos ausgeliefert sein zu müssen dank eines „genialen Einfalls“ eines Provinzfotografen-Künstlers, dann hätte sie die Fotokabine bevorzugt. Ganz sicher. Im Fall dieser bezaubernden jungen Dame im Sessel gab es noch eine Besonderheit. Der Ringfinger der rechten Hand stak vorsichtig in Mundnähe fest, und der kleine Finger zeigte unverhohlen und total sinnfrei gen Himmel. Eine Blamage für jeden Künstler, dieses Arrangement. Es zeugt von einem Selbstbewusstsein nahezu exorbitant aufgeblasener Güte, sich so ablichten zu lassen, und natürlich aber auch von der ausgeprägten Ignoranz eines sich selbst entfremdeten Kunst-Fotografen. Dieser Mensch würde niemals das Presse-Foto des Jahres 2021 schießen.
Achten Sie einmal darauf, wenn Sie demnächst eine Talkshow sehen. Wer sticht sich mit dem Finger in Hals oder Wange? Warum macht er/sie das? Wie lange hält er die dümmliche Geste durch? Machte er/sie das, nachdem er/sie persönlich angegriffen oder schwer unter Beschuss geraten war? Wie beknackt wirkte die Szene auf Sie? Wirkt das auf Sie unsympathisch?
Richtig cool und angriffslustig ist die seitwärts gerichtete Denkerpose. Hier stemmt man die Faust nicht gegen die Stirn, sondern an die Wange. Das vermittelt große Selbstsicherheit und mitunter auch ein gewagtes Statement. Im übertragenen Sinn wird diese Geste als „verschränkte Arme-Haltung“ ausgelegt. Ein wenig Trotz, ein wenig auf Konfrontation aus, aber dabei immer unterkühlt-beherrscht wirken.
Es macht immer eine Menge Spaß, Menschen dabei zu beobachten, wie sie, stets aufs Neue, versuchen, sich im puren Menschsein zu verwirklichen. Talkshows sind dabei die absolut beste Bühne, sie bieten ALLES, was die TV-Unterhaltung überhaupt ausmacht. Und sie bringen uns fortwährend zum Lachen. Und ist das, in diesen so oft beschworenen „schweren Zeiten“ nicht das Beste überhaupt? Richtig, das ist es! Gelächter! Und dabei darf es ruhig auch mal hämisch zugehen. Gibt es denn überhaupt Herzerwärmenderes, als über andere zu lachen? Ganz sicher nicht. Schadenfreude olé!
Kommentare
Wenn Krause mit dem Finger sticht -
Dann tut sie dies - in MEIN Gesicht ...
LG Axel
Hallo Axel, hab ich Dir eigentlich schon
ein FROHES NEUES gewünscht? Ich
denke nicht. Also daher heute und auf
diesem Weg: Ein wunderbares 2 0 2 1
für Dich und Dein Engagement für L.P.
Ohne Dich ginge es aber mal gar nicht.
Grüße und Danke!
Gherkin
Danke! Grüße sende ich auch Dir -
Ich mach just Hausputz - Krause trinkt Bier ...
LG Axel
Ich habe mich köstlich amüsiert bei der Lektüre deines Textes. Fast bedauere ich es, dass ich mir Talkshows nur sehr selten zu Gemüte führe. Ich werde aber in Zukunft ganz bewusst auf diese Geste achten und mir deshalb vielleicht sogar mal den Lanz antun!