Ich bin gewissermaßen ein Wunderkind … aber leider erst jetzt, denn erst jetzt, im vorgerückten Alter, wundere ich mich täglich mehr. Früher, als ich klein und nicht unbegabt war, wusste ich alles und wunderte mich über nichts, denn ich konnte ja überall nachfragen, dann bekam ich die, nicht unbedingt von mir gewünschte Aufklärung. Ich konnte nach-denken, nach-forschen und nach-folgen – meinen Eltern z. B., oder den Lehrern, und dann war ich auch schon gerettet.
Ganz toll weise war der Herr Pfarrer, der mir sogar, als ich 6 Jahre alt war, den niedlichen Penis beim Pinkeln auf der Schultoilette hielt. Auch darüber wunderte ich mich nicht. Ich hatte nur ein komisches Gefühl dabei, als meine Eltern mir dringendst anrieten, dies nicht weiterzuerzählen. Warum eigentlich – wo er sich doch so rührend bemüht hatte? Bei mir blieb ja nicht einmal ein komisches Gefühl zurück.
Das kam erst später, aber nicht was den Pfarrer betrifft, oder den Gemeindepfadfinder (ich nannte ihn so, weil er Pfadfinder war und die Ausflüge der Schulkinder mitbetreute, wenn es der Pfarramtsbeauftragten alleine zu viel wurde). Beide bestanden nicht nur darauf, daß alle Kinder im Ferienheim 5 mal am Tag beteten, sondern auch auf ihr gemeinsames Duschen, wo ALLE nackt sein mussten.
Die „Tante“ und der Pfadfinder kamen dann herein und guckten sich an, was es zu sehen gab. Mehr bekam ich nicht mit, denn ich erpresste meine Eltern heimlich, mich sofort abzuholen, weil mir das Ganze ein bisschen zu unheimlich war. Aber gewundert habe ich mich damals noch nicht … ich bin halt nur ein nicht unbegabter, aber sehr schlechter Mensch gewesen, der immer irgendwo nicht mitmachen wollte.
Nachdem dann, so langsam, alle von mir enttäuscht waren und ich sie mit nichts mehr begeistern konnte – nicht einmal mit meinen phantasievollen Zeichnungen – fing ich zum ersten Mal mit dem Zweifeln an. War ich wirklich der EINZIGE schlechte Mensch auf der ganzen Welt, oder hatten die anderen auch gelegentlich Macken? Ich musste vorsichtig zu Werke gehen, denn man hielt mir alle als Vorbild vor Augen.
Meine Karriere als Verbrecher verlief dagegen blendend. Ich begann zynisch und rachsüchtig zu werden, ich stellte überall verbale Fallen auf und zwang meine Umgebung, sich andauernd in Widersprüche zu verstricken. Ich bezeichnete die weißen Westen, die sie anhatten, als deutlich verdreckt, ihre dicken Köpfe als leer und ihre Moral als verdoppelt – und ich lachte sie demonstrativ aus!
Das brachte die ganze Welt um mich auf eine einzige Palme, von wo aus sie mich mit Kokosnüssen bewarf. Manchmal war das Bombardement so stark, daß ich mein letztes Stündchen für gekommen hielt und so versteckte mich in meinen perversen Phantasien von absoluter Freiheit und Anerkennung durch die klugen Menschen der Zeit. Mir fehlte etwas, das ich einfach nicht bekommen konnte: Liebe!
Als ich sie mir dann endlich schwer erarbeitet hatte … bei einem einzigen Menschen, eindeutig weiblichen Geschlechts, fing ich das erste Mal an mich zu wundern. Ich wunderte mich aber nicht nur über die Wunder, die mir begegneten, sondern auch über den Menschen weiblichen Geschlechts, „der“ zwar nicht unbedingt klüger war als ich (eher das Gegenteil), aber trotzdem alles besser wusste.
Ich verglich „sein“ Verhalten mit dem meiner Altvorderen, dem des Pfarrers und stellte, überraschenderweise, Übereinstimmungen fest. Gab es da etwas, das die meisten Menschen miteinander verband, ohne mich einzuschließen? Sie waren sich alle so sicher richtig zu handeln, zu „funktionieren“, wie mir der weibliche Mensch viel später, also erst kürzlich gestand. „Ich will mir nicht andauernd Sorgen machen …
wenn ich den ganzen Tag zuverlässig im Geschäft zu funktionieren habe“, sagte „er“, der Mensch, zu mir. Und als ich „ihn“ fagte, ob er denn nicht wissen wolle, was hinter dieser, so schön präsentierten Fassade des Lebens stecke, wurde „er“ wütend und beschuldige mich der Miesmacherei … „Ich lasse mir mein lLeben doch nicht von dir zerstören!“ Ich dachte an die 3 Affen und wunderte mich gewaltig.
So verhielt es sich also wirklich mit dem Selbstverständnis der Erdenbewohner? Liebe, Lohn und Anerkennung gegen Nichtssagen, Nichtssehen und Nichtshören?? Mir klappte die Kinnlade runter! Jetzt wunderte ich mich maßlos, so maßlos, wie ich immer gewesen war im Leben. Immer hatte ich alles übertrieben: meinen Drang zur Aufklärung der Fälle, der Darlegung, für mich komischer Motive, meine Frechheit.
Heute, wo die Traumpfade immer näher rücken, ist mein Sein ein einziges Wundern geworden: Ich bin ein Wunderkind … alt, naiv, gutgläubig (immer noch erhoffe ich ein Weiterbestehen der Welt) und kämpferisch, in einem aussichtslosen Konflikt. Denn genau genommen bin ich unbewaffnet! Nackt stehe ich einer Armada von abgewrackten Fregatten gegenüber, die mir jede Menge Breitseiten verpassen.
Denn ich kann nur auf meine winzige Ausrüstung verweisen. Ich besitze eine weiße Fahne (nicht Weste), auf der steht: „Bringt euch in Sicherheit vor euch selbst, damit ich wieder ruhig schlafen kann!“ Stellt das Denken und zwar das ZUENDEDENKEN, VOR euer Handeln, bewahrt die Werte, die erhaltenswert sind, und lasst niemanden an euer Eingemachtes heran, der sich nur einseitig bereichern möchte.
Ich friere! Der Schrecken steckt mir in Mark und Bein und ich wundere mich so sehr, daß ich kurz vor der Auflösung meiner (entsetzlichen) Identität stehe, wenn ich beobachte, was um mich vor sich geht. Natürlich weiß ich, daß die anderen Recht haben, aber warum, frage ich mich, in Dreiteufelsnamen, passiert dann soo viel Mist und warum, verdammt nochmal, lässt es sich einfach nicht beweisen, daß diese vielen, vielen anderen tatsächlich Recht haben??
Kommentare
Aufmerksam gelesen, auch einiges nachempfunden ... denn vieles, was um mich herum passiert(e), schien mir nicht nur in der Kindheit wenig plausibel ... Bereits im Kindergarten sollte Psychologie gelehrt werden, damit man einigermaßen versteht, wie manche Menschen ticken und was sie umtreibt. - Guter Essay.
LG Annelie
Die Mehrheit hat doch immer recht!
(Der Kritiker bleibt klein und schlecht ...)
LG Axel
Vielen Dank liebe Freunde!!
LG Alf