Seiten
was eine der Schwestern dazu veranlasste, von meinem Vater als einem vornehmen Mann zu sprechen.
Eine weitere so wichtige Nebenrolle spielte der verantwortliche Pfleger meines Vaters, kein attraktiver Mann, aber eine Seele von Mensch. Freundlich, nachdenklich, mit gradliniger Offenheit und leichter Ironie ausgestattet. Ironie, die ein das Ventil für seine Verletzlichkeit war. Sein Alter war schwer zu schätzen, vielleicht Anfang 40, und als wir etwas vertrauter waren, berichtete er mir, dass er bereits 67 Menschen in den Tod begleitet und deshalb einen Burnout gehabt habe, aber jetzt sei alles wieder gut und auch wenn es eine schwere Aufgabe sei, würde er das doch gerne machen, einer müsse es schließlich machen und irgendwie sei das Schicksal dabei auf ihn gefallen, was soll man machen. Ob es eine gespielte Leichtigkeit war oder er tatsächlich entspannt an diese Sache heranging, weiß ich nicht, dazu war ich viel zu sehr mit anderem beschäftigt, aber ich war ihm dankbar, dass er sich in liebevoller, rührender Weise um meinen Vater kümmerte, um Dinge die mir schwergefallen wären. Er half ihm beim Waschen, beim Toilettengang, beim Anziehen. Er sorgte dafür, dass das Bettzeug stets frisch und sauber war, er leerte die Bettpfanne und das alles mit großem Einfühlungsvermögen. Die rührendste Geste jenes Mannes war jedoch, dass er meinen Vater, den ich nie unrasiert erlebt hatte, bis zum letzten Tag sorgfältig rasierte und mit Rasierwasser einsprühte.
Dieser Pfleger wurde meinem Vater zu einer Art Vertrauensperson. Eines Tages bat mein Vater mich, das Zimmer zu verlassen und ihn mit dem Pfleger allein zu lassen. Das war ungewöhnlich. Durch die geschlossene Tür hörte ich aber, dass sich mein Vater nun doch ein Katheter wünsche, weil er nicht mehr aufstehen könne. Mit dem Pfleger konnte er das besprechen, mir wollte er diese vermeintlich peinlichen Dinge ersparen.
Oder die Palliativschwester, eine zarte, freundliche, einfühlsame Frau Ende 30, geübt im Umgang mit traurigen Angehörigen, und ich spürte, wie sie meinen Vater, meine Familie und mich mochte. Sie war es, mit der ich auf dem Flur vor dem Sterbezimmer meines Vaters saß, als sein Hausarzt zu uns stieß, und ich spürte durch den Mantel meiner Trauer die Besorgnis des Mannes, wir könnten ihn wegen falscher oder zu später Diagnose haftbar machen. Die Schwester rechts, der Doktor links von mir, auf einer Bank sitzend, war mir der Gedanke an ärztliche Kunstfehler völlig fremd, und ich stammelte, absurderweise immer wieder um Verzeihung für meine tränenerstickte Stimme bittend, den Wunsch meines Vaters, dass sie beide ihm beim Sterben helfen mögen. Obwohl die Schwester nur einfach neben mir saß und mitfühlend zuhörte, war es, als würde sie mir mit der Hand tröstend über den Rücken streicheln.
An einem anderen Tag saß ich wieder mit ihr zusammen auf besagter Bank und ich berichtete, dass mein Vater so unruhig sei, vor allem im Schlaf würde er sich immer hin und her werfen und zucken, und dass ich gar nicht wüsste, was in ihm vorgehe. Was glauben Sie, antwortete sie? Können Sie sich vorstellen, es war das einfachste von der Welt, aber ich bin nicht selber darauf gekommen. Da war ein Elefant im Raum, aber wir sprachen nicht über den Tod. Sie war es, die mir riet, mit meinem Vater über Tod und Sterben und Ängste zu sprechen. Natürlich! Was beschäftigt einen Sterbenden? Sein Tod, sein Sterben und sein Leben. Was sonst? Und ich, der sich sonst soviel auf sein Einfühlungsvermögen einbildete, habe nie auch nur einen Gedanken daran verschwendet, darüber mit ihm zu sprechen.
Dankbar nahm ich den Ball auf und versuchte ein Gespräch. Es blieb ein Versuch von wenigen Sätzen. Er erzählte, dass er viel vom Krieg träume, dass er Angst habe, dass er sich Sorgen um meine Mutter mache und das wir auf sie aufpassen müssten. Viel mehr kam nicht zustande. Ich denke, es war meine Unfähigkeit, mit meinem Vater über seine Gefühle zu reden.
Als Kind war ich immer derjenige gewesen, der mit seinen Ängsten zu meinem Vater gelaufen ist. So war die Rollenverteilung. Und jetzt auf einmal sollte ich die Ängste meines Vaters auffangen?
Dazu war ich nicht in der Lage. Auch heute noch frage ich mich, was ich hätte anders machen können, und bin nach wie vor ratlos. Diese Rolle war wohl zu groß für mich.
Auch wenn ich in dieser Situation versagte, da war viel Nähe und Vertrauen zwischen uns, und was gibt es im Angesicht des Todes schon viel zu reden? Unsere Gespräche reduzierten sich auf wenige Sätze. Es gab nicht mehr viel zu sagen. Nur ein einziger kurzer Dialog blieb mir wörtlich in Erinnerung. Ich hatte, glaube ich, bereits erwähnt, dass er sich für sein Sterbezimmer das Porträt eines jungen Friesenmädchens an die Wand gegenüber seines Bettes hängen ließ. Es ist ein handwerklich gut gemachtes, freundliches, helles Ölbild, das er vor Jahren auf einer Auktion ersteigert hatte. Ich saß alleine bei ihm und er blickte auf das Bild dieses jungen Mädchens und meinte, dass er dieses Bild schon lange habe und es gerne ansehe und dass es ihm immer wieder Freude bereite. Ich fragte ihn danach, was er denn darin sähe? Er antwortete mit nur einem Wort und nannte den Namen meiner Schwester. Das rührte mich zutiefst, denn er hatte mir Jahre vorher erzählt, dass die Zeit nach der Geburt meiner Schwester die glücklichste Zeit in seinem Leben gewesen sei.
Ob ich eifersüchtig war deswegen, fragen Sie? Nein, erstaunlicherweise nicht. Es hat mir nur eine zärtliche Seite meines Vaters gezeigt, die ich bis dahin nicht kannte. Meiner Schwester berichtete ich kurz darauf von diesem Dialog und ihr schossen die Tränen in die Augen. Erstaunlich ist, dass dieses Bild von dem Moment eine Schönheit für mich gewann, die es vorher nicht hatte, und es war klar, dass es nach dem Tod meines Vaters in den Besitz meiner Schwester übergehen musste. Dort hängt es jetzt an einem schönen Platz, und wenn sie so wollen, hat es den Rang einer Familienikone eingenommen.
So reihten sich lange Tage und unruhige Nächte aneinander. Es war ein traumhaft schöner Herbst. Ein blauer Himmel, wie ihn nur der liebe
(c) Peter K. 2018
Kommentare
Gerne gelesen !
HG Olaf
Ach du, so berührend hast du deine Empfindungen sowie alle Beteiligten beschrieben!
Klasse! Und nun bist du leider und gleichzeitig richtigerweise glücklich der Peter ohne das "chen"...
LG Uwe.
Seiten