Peter grübelte über dieser Version, noch während er seinen Gedanken formulierte. Dem entsprechend lag die Betonung auf „keine“.
Michael wurde blass. „Hast du schon mal Saalordner ohne Armbinden gesehen oder die kämpfende Truppe ohne Uniformen?!“ Allein die Vorstellung erhöhte seine Atemfrequenz.
„Jaja, oder stell' dir dich ohne Schwert vor“, nickte Peter und fuhr fort: „Uns ist das klar. Aber denk' doch mal, die da unten, was die sich erschrecken, wenn die einen von euch sehen. Was meinst du, womit das zusammenhängt, na?!“
Michael schüttelte sich. „Ich käme mir nackt vor. Und ich weiß, wer ich bin. Was sollen denn all die Neulinge sagen, die sich erst noch finden müssen? Die sind doch froh, wenn sie etwas haben, an dem sie sich festhalten können; und so ein paar Flügel kann da ganz schön nützlich sein, das sag ich dir.“
„Das kann ich mir vorstellen“, Peter schien abwesend. „Aber ich frage mich, ob man denen da unten alles in mundgerechten Häppchen servieren muss. Es wäre doch viel wirksamer, wenn sie euch gar nicht auf den ersten Blick erkennen würden.“
„Wo soll denn da der Vorteil sein!“ Zwei steile Falten gruben sich oberhalb der Nase in Michaels unwillig gerunzelte Stirn.
Peter blieb unbeeindruckt: „Überleg doch mal.“ Er beugte den Oberkörper nach vorne und schaute Michael direkt ins Gesicht: „Was ist denn das Erste, was passiert, wenn sie einen von euch sehen!“ Das klang nicht nach einer Frage.
Michael zuckte verächtlich mit der linken Schulter, die Federn seiner Schwingen raschelten leise: „Sie erstarren in Ehrfurcht, das ist doch klar!“
„Genau!“ rief Peter. „Das ist es doch! Sie erstarren in Ehrfurcht. Und mit ihrer schwach und eher einseitig entwickelten Phantasie, erwarten sie erstmal Strafen, wofür auch immer, oder?“
Michael nickte.
„Eben,“ fuhr Peter fort, „aber wie ist das mit dem Gehorsam – da gibt es doch verschiedene Arten, wenn ich mich nicht täusche. Habe ich recht?“
Die senkrechten Falten in Michaels Stirn verloren an Spannung, Erkenntnis dämmerte im Augenhintergrund auf. „Das stimmt,“ sagte er, „Gehorsam aus Furcht, Gehorsam aus Einsicht und Gehorsam aus Liebe.“
Peter nickte zufrieden. „Was glaubst du, welcher Gehorsam das ist, den sie zeigen, wenn sie vor Ehrfurcht ganz starr sind.“ Wieder war das keine Frage, eher eine Suggestion.
„Du denkst,“ kam es nachdenklich aus Michaels Richtung, „nicht DAS ist der richtige Weg?“
Peter nickte und Michael dachte weiter laut: „Wenn sie aus Einsicht oder Liebe seinen Willen erfüllen würden und nicht aus Angst vor Strafen, wäre das wertvoller; da ist was dran. Und wenn sie uns nicht gleich erkennen würden, hätten sie mehr Chancen zu Einsicht und Liebe. Du hast unbedingt RECHT!“ Er schlug sich mit der flachen Hand auf sein Knie, das wogende Rauschen seiner Schwingen ließ erkennen, wie aufgeregt er war.
Peter lehnte sich zurück, schmunzelte und genoss das Bild: Michael mit roten Wangen und blitzenden Augen. Das war das Feuer, das er von ihm kannte. Er wusste, dass er die richtige Idee gesät hatte, schließlich war er selber einmal einer von denen da unten gewesen.
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Seit diesem Gespräch gibt es sie auf der ganzen Welt verteilt, mitten unter uns. Sie sind unsere Nachbarin, unser Briefträger, die Verkäuferin im 2nd-Hand-Shop, die sich aller gescheiterten Existenzen annimmt und manchmal auch unser Pfarrer. Sie sehen aus wie du und ich, sie leben ein Leben, das dem unseren zum Verwechseln ähnelt.
Mit einem Unterschied: Sie leben es als liebevolle Vorbilder in unermüdlicher Geduld. Und wenn man nicht verlernt hat, mit dem Herzen zu sehen, erkennt man sie auch ohne ihre Flügel.
© noé/1988
Kommentare
Ein Text mit Inhalt, dennoch leicht -
Den Leser schwebend er erreicht ...
LG Axel