Schritte auf dem Zeitpfeil

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von Heide Nöchel (noé)

Langsam komme ich in ein Alter, in dem ich Erstaunen auslöse damit, dass ich (noch) Ansprüche stelle an das Leben.

Mein z. B. medizinisches Umfeld erwartet von mir, dass ich mich Erkrankungen kampflos ergebe, bei denen „sie“ vor Kurzem noch schweres Geschütz aufgefahren hätten, gerne mit dem mehr oder weniger dezenten Hinweis auf meinen Kalender. Wenn ich nicht dazu bereit bin, mich verwalten zu lassen und still duldend wie tatenlos dem Tag X entgegen zu dämmern, an dem ich mein müdes Haupt lebenssatt auf das polyesterbezogene Sägemehlkissen im schon längst vertraglich erworbenen Erdmöbel bette, stoße ich auf verständnisarmes Amüsement, wortlos vor heimlichem Unglauben.
Dabei trennen uns zumeist knappe 5 bis 15 Jahre.
Die aber bilden – scheint’s – eine nahezu sichtbare Grenze.

Es ist ja nicht so, dass ich in verblendeter Unsterblichkeitsphantasie davon ausgehe, gar die Ewigkeit noch zu überleben. Dazu sind aus meinem Umfeld bereits zu viele der wenigen Leute, die ich kenne, verstorben. Einige sogar sehr viel jünger, als ich jetzt schon bin. Aber etliche haben mein jetziges Lebensalter auch deutlich übertroffen.

Ich bin da so realistisch, dass ich schon vor Jahren alles, was meine eigene Beerdigung angeht, vertraglich und mündelsicher geregelt habe. Bis hin zu den Briefmarken für die Trauer-„Einladungen“ und den anschließenden Begräbniskaffee (für 15 Leute, mehr werden erst gar nicht erscheinen) ist alles schon verzinslich bezahlt – damit meine Hinterbliebenen dereinst in ihrem hoffentlichen Schmerz sich nicht durch lästige Formalitäten und unwägbare Unsummen beeinträchtigen lassen müssen.

Jährlich werden die 20 Jahre „aufgestockt“, die ich neben meinem lieben Mann totenruh in der „gekauften“ Grabstelle zu liegen gedenke, für deren sorgsame Pflege beim Friedhofsgärtner meines Vertrauens ebenfalls bereits vor Jahren für diesen Dienst ein finanzielles Depot angelegt wurde.
Übrigens wurde damals genau diese Vorsorge als „morbide“ belächelt und ich mit beunruhigtem Kopfschütteln eine Zeit lang misstrauisch beobachtet.

Merkt ihr die Grenze?
Ganz im Vertrauen: Die besteht nur in den Köpfen.
Das zu glauben, weigern sich die jüngeren Köpfe allerdings.
Warum?
Weil man besser nicht von schwarzen Katzen spricht, sonst könnte man ein Unglück herbeireden?

Ich fasse es mal als Kompliment auf, was ein Bekannter mir erzählte. Der berichtete mir von dem fast fassungslosen Entsetzen eines SEINER Bekannten, einem Leser meiner Gedichte, als der von ihm mein wahres Lebensalter erfuhr: „WAS?! Das kann nicht sein! Wie ich ihre Gedichte lese – die schreibt so modern, das MUSS ein knackiges junges Mädchen mit Minirock sein!“
Tut mir leid, lieber Leser, dass mein Äußeres dich da enttäuschen würde. Was mein Inneres angeht, hast du absolut recht. (Also gut, jetzt nicht gerade Minirock …)

Ich denke, es klafft eine große Diskrepanz zwischen der Erwartungshaltung meiner – nicht nur medizinischen, das war ein Beispiel – Umgebung und meinem eigenen Lebensgefühl, dem ich ja anscheinend (s. o.) in meiner Art zu schreiben deutlich Ausdruck geben kann.

Die physisch Jüngeren gehen in einer Art Überschätzung ihrer eigenen Position auf dem Zeitpfeil häufig wenig achtsam – ja, gönnerhaft – mit den Gefühlen derjenigen um, die da schon ein paar Schritte mehr gegangen sind.

Dass ich mit Anfang 40 bereits eine Einladung für „jung gebliebene Senioren“ erhielt, sehe ich schmunzelnd eher als Bonmot, damals wie heute.
Als – vorsichtshalber mal unbedachte – Diskriminierung hingegen werte ich eine Nachrichtenmeldung, in der es von einem 62-jährigen Unfallopfer hieß, dass „die alte Dame“ wohl unachtsam die Straße überqueren wollte.

Wenn ihr euch angstvoll fragt, ihr Nachkommenden, ob man langsam verblasst im „Älterwerden“ – ich kann euch beruhigen (?): NEIN!
Mögen wir euch auch exotisch erscheinen, weil wir uns Welten erstritten haben, die ihr erst noch finden müsst, ich kann euch versichern: Wir leben noch!
Und nicht nur gerade eben mal so.

Auch wenn unser Geburtsjahr in Dokumentationen vielleicht in s/w gesendet wird oder in Schmalfilm-8-Qualität, wie in den Kino-Wochenschauen von einst: Wir sind dieselben Menschen, mit denselben Gefühlen und Empfindungen, denselben Hoffnungen, derselben Trauer und Verzweiflung, derselben Wut und Phantasie (OK, ihr schreibt sie inzwischen mit „F“) und mit derselben Sehnsucht nach Anerkennung und Liebe.

Nur halt eben euch ein paar Schritte voraus auf dem Zeitpfeil.

© noé/2016 Alle Rechte bei der Autorin

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