Heute, an Lydia Dmitriewnas Geburtstag erinnere ich mich, wir saßen auf ihrem Balkon und sie erzählte mir ihre Lebensgeschichte, noch immer höre ich ihre Stimme. Von ihrer molligen Figur ging eine angenehme Ruhe aus. Hinter den starken Gläsern ihrer altmodischen Hornbrille, strahlten ihre Augen mich an. Das machte sie schön.
Knapp zwei Jahre wohnte ich während meiner Studienzeit an der Pädagogischen Hochschule Omsk bei Lydia zur Untermiete. Als pensionierte Grundschullehrerin benötigte sie die monatlichen zehn Rubel Miete. Ich verzichtete auf einen Platz im Studentenheim, bei ihr fühlte ich mich wohl. Sie behandelte mich wie eine Freundin und umsorgte mich wie eine Mutter, stand mir mit gutem Rat zur Seite. Oft kochte sie für mich mit, einfache, leckere Mahlzeiten, und ich beteiligte mich an den Kosten. Außer ihrer Nachbarin Tonja, die ab und zu vorbeischaute, waren Michail Sergejewitsch und seine Schwester Nina, ihre einzigen alten Bekannten, die sie an Feiertagen und am Geburtstag besuchten.
Michail Sergejewitsch, ein staatlicher Mann mit feinen Gesichtszügen, kannte ich von den Tafelrunden, er war ein interessanter Gesprächspartner und die Unterhaltung mit ihm eine Bereicherung. Er erschien im makellosen Anzug und Fliege, trug eine Brille mit Goldrand. Sein Handkuss und seine Manieren imponierten mir. Sogar im Winter brachte er Blumen mit, zu jener Zeit in Sibirien war das keine Selbstverständlichkeit. Er verneigte sich vor Lydia, bot ihr einen Stuhl an und nahm erst Platz, nachdem die Frauen saßen. Er bedankte sich für die gereichte Zuckerdose, für jede gefüllte Tasse Tee.
Während des Zweiten Weltkriegs wurden tausende Menschen ins Hinterland von Sibirien evakuiert. Der Krieg sollte noch vier lange Jahre dauern, als Lydia mit ihrer kleinen Tochter Tamara das Försterhaus in der Taiga verließ und nach Omsk ging, auf der Suche nach Unterkunft und Arbeit. Anfangs schliefen sie im Bahnhof. Tagsüber klopfte sie an Türen wildfremder Menschen. Sie war nicht wählerisch bei der Arbeitssuche. Den Menschen ging es schlecht. Einige entschuldigten sich, hatten bereits Flüchtlinge aufgenommen, manchmal wurde ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen. Wenige erbarmten sich, steckten ihr ein Stück Brot, eine Pellkartoffel oder Rübe zu. Lydia schleppte sich entkräftet und unterkühlt mit dem schlafenden Kind auf dem Arm zurück zum Bahnhof. Mit der Zeit wurde sie mutlos. Sie wusste nicht, wie es weitergehen sollte und schwor sich, noch ein letztes Mal an Türen anzuklopfen.
Die Wohnungstür öffnete ein schlanker junger Mann. Lydia entschuldigte sich für die Störung und wollte sich auf der Stelle umdrehen. „Kommen Sie bitte herein!“, sagte der Mann. Sie folgte ihm zögernd durch den breiten Flur in ein großes, helles Zimmer. Am runden Tisch saßen zwei ältere Frauen, ein Mann und ein etwa vierzehnjähriges Mädchen. „Mama, Papa, die Frau mit dem Kind sucht eine Bleibe und Beschäftigung. Wir könnten ihr doch helfen, nicht wahr?“ Lydia durfte mit ihrem Kind bleiben, sie schliefen in einer kleinen Kammer.
„Wie das so ist im Leben, als ich völlig erschöpft und hoffnungslos aufgeben wollte, öffnete mir mein Retter, Michail Sergejewitsch, die Tür.“, erzählte mir Lydia. Seine Eltern waren Akademiker, der Vater Ingenieur, die Mutter Professorin, anständige herzensgute Menschen. Michail Sergejewitsch besorgte ihr eine Stelle als Putzfrau in der Schule, an der er Musik unterrichtete und unterstützte sie beim Abendstudium an der pädagogischen Fachschule. Sie brauchte sich keine Sorgen mehr um Tamara zu machen. Die Freundschaft hielt jahrzehntelang. Nun waren beide über sechzig.
Als wir beieinander auf dem Balkon saßen, traute ich mich endlich Lydia zu fragen, warum sie Michail Sergejewitsch, diesen wunderbaren Mann, nicht geheiratet hatte. „Ich konnte nicht heiraten. Ja, er hat mich geliebt. Jeden Wunsch las er mir von den Augen ab. Auch ich habe ihn liebgewonnen, aber heiraten kam für mich nicht in Frage. Wir blieben Freunde.“ – „Aber wieso?“, hakte ich nach. „Das ist eine längere Geschichte.“
Zögernd begann Lydia zu erzählen. „Ich habe früh geheiratet. Mein Mann, ein Förster, war oft tagelang im Wald unterwegs. Wir lebten mitten in der Taiga im Försterhäuschen bei seinen Eltern, einfachen Menschen, die gut zu mir waren. Als unsere Tochter ein Jahr war, wurde ich wieder schwanger. Eines Tages bat ich meinen Mann mich ins Autokino ins Dorf mitzunehmen. Er lehnte ab, aber seine Eltern setzten sich für mich ein und ich ging mit ihm. Als der Film zu Ende war, suchte ich vergeblich nach meinem Mann. Er schien spurlos verschwunden. Ich machte mich alleine auf den langen Rückweg durch den Wald. Unbehagen begleitete mich. Alle meine Sinne waren angespannt. Plötzlich hörte ich aus dem Gebüsch eine Frauenstimme und die meines Mannes. Seine Worte ließen mich erstarren. „Mach dir keine Sorgen, die werde ich schon los, nachdem sie das Kind geboren hat. Du weißt, ich liebe nur dich.“ Mein Herz drohte zu explodieren, die Beine waren plötzlich steif. Ich war unfähig, mich zu bewegen und klar zu denken. Ich hatte nicht die Kraft die beiden anzusprechen. Ich musste aus diesem gespenstischen Wald heraus. Ich lief und lief, lief einfach weiter.
Die Eltern schliefen noch nicht. Ich sagte, dass ich morgen ausziehen würde und erklärte ihnen den Grund. Die alten Leute waren erschüttert, sie taten mir leid. Ahnungslos kam mein Mann zurück. Ein Skandal! Er stritt alles ab, gab mir die Schuld, behauptete, ich würde mich irren. Am nächsten Morgen flüsterte er mir zu, ich sollte zu „unserer“ Stelle im Wald, die früher unser Treffpunkt gewesen war, kommen. Ungern und nichtsahnend ging ich zu der kleinen Lichtung, umgeben von Tannen und Zedern, und blieb vor einem Baum stehen. Mein Mann richtete seine Flinte auf mich. „Entweder du verschwindest freiwillig oder ich bringe dich um. Versuche nicht zu jammern und zu weinen. Ich liebe dich nicht mehr. Du musst weg.“
Lydia machte eine Pause. Die Szene schien sie einzuholen. Ich wartete ab, entsetzt und sprachlos, bis Lydia mit ihrer Erzählung fortfuhr.
„Ich hatte keine Tränen und wollte ihn nicht der Kinder wegen anflehen. Ich sah in ihm keinen Menschen mehr, wieso sollte ich an das Menschliche in ihm appellieren? Ich versuchte ihm klar zu machen, dass ich nach der Geburt des Kindes verschwinden würde, da wurde ihm die Flinte aus der Hand geschlagen. Auch ich war überrascht. Dann sah ich seinen Vater, er versetzte ihm einen Fausthieb. „Du Hurensohn, du erhebst nicht noch einmal die Hand, geschweige denn ein Gewehr gegen die Frau und meinen Enkel, mein Fleisch und Blut. Sie bleiben. Ich bin der Herr im Haus. Du verschwindest, auch wenn es dir nicht passt,“ schrie mein Schwiegervater. Er nahm meine Hand. „Komm nach Hause, mein Kind! Ich passe auf den Bastard auf. Du stehst unter meinem Schutz. Mein Haus ist das Haus meiner Enkel.“ Also blieb ich. Wo sollte ich auch hin? Meine Schwiegereltern umgaben mich mit Fürsorge und Liebe. Obwohl es mir seelisch schlecht ging, kam Tamara gesund auf die Welt. Einige Zeit später erkrankte Nina an Scharlach und starb. Mir ging es von zu Tag schlechter, ich konnte nichts essen, lag schlaflos im Bett und starrte die Decke an. Tamara zuliebe, die mich erwartungsvoll aus ihren Kinderaugen ansah, stand ich auf, erfüllte meine Pflicht als Mutter. Ihre ersten Schritte und Worte trugen zu meiner Genesung bei. Ich hatte den Willen für dieses unschuldige kleine Geschöpf zu leben. Zwischen mir und meinem Mann herrschte kalter Krieg. Es fiel kaum ein Wort zwischen uns. Er war selten zu Hause. Die Eltern warteten ab, sie glaubten, wir würden uns wieder versöhnen.
Dann attestierten die Ärzte meinem Mann Tuberkulose. Er war abgemagert, grau im Gesicht, ein hartnäckiger Husten quälte ihn. Er lag im Bezirkskrankenhaus, seine Mutter richtete mir seine Bitte aus, ihn zu besuchen. Fast zwei Jahre sprachen wir kaum ein Wort miteinander. Was sollte ich an seinem Sterbebett? Schließlich überwand ich mich und fuhr zu ihm.
Auf dem Bett lag ein Skelett von einem einst großen starken Mann. Ich setzte mich auf den Stuhl am Bett. „Lydia, ich habe nur noch wenig Zeit. Ich möchte dich um Verzeihung bitten.“ Tränen liefen ihm über die eingefallenen Wangen. Ich hatte einen Kloß im Hals, aber keine Tränen. Mit diesem Menschen zu sprechen, hatte ich verlernt. Ich müsste nur drei Worte sagen – ich verzeihe dir – und er würde erleichtert einschlafen. Du sollst vergeben, dachte ich, doch mein Herz widerstrebte. Man soll seinen Nächsten lieben, heißt es in der Bibel. Er wollte mich töten! Meine Kehle war wie zugeschnürt. Ich brachte die Worte nicht über die Lippen. Er schloss die Augen, schlief erschöpft ein, ich aber ging. Es fiel mir nicht leicht, ihm nicht zu verzeihen, aber ich konnte nicht anders. Dieser Mann beraubte mich nicht nur der Liebe, er nahm mir den Glauben an das Gute in einem Mann. Ich schwor mir, nie wieder zu heiraten. Ein paar Tage später starb er. Ein dreiviertel Jahr später starb seine Mutter, ein halbes Jahr danach der Vater. Ich zog mit meinem Kind in die Stadt. Zum Glück begegnete mir Michail Sergejewitsch. Nun weißt du, weshalb ich diesen wunderbaren Mann nicht heiraten konnte.“
Ob ich mich damals in Lydias Gefühle hineinversetzen konnte, erinnere ich mich nicht mehr. Ich war jung, wartete auf meinen Prinzen. Ihre Lebensgeschichte prägte sich tief in mein Gedächtnis, sie holte mich ein, als mich zwanzig Jahre später, mein Exmann bat – ein Alkoholiker, Sadist, der mir mit Mord drohte – ihn wieder aufzunehmen, sagte ich: „Niemals!“
Kommentare
Dein Text steht nicht nur auf Papier -
Sein Leser tritt ins Leben schier ...
LG Axel
Herzergreifend und herzzerreißend, liebe Lena.
Deinen Schreibstil mag ich sehr. Die Geschichten fließen in einer sehr angenehmen Art und Weise, unaufdringlich und doch spannend. Danke dafür.
Das macht Lust auf mehr. :)
Herzliche Grüße
Ella
Lena.
Umwerfend in jeder Beziehung.
LG U.
An Axel, Ella und Uwe - herzlichen Dank
für Euer Interesse an meinen Texten und das mitfühlende Lesen,
Eure Kommentare ermutigen mich weiter zu schreiben.
Liebe Grüße, Lena