Während die Kinder in dem staubigen Sand herumtollten, sahen sich Ella und Johann nach einem noch einigermaßen bewohnbaren Haus um. Irgendwann stießen sie auf ein weißes längliches Flachdachgebäude, bei dem das Mauerwerk noch in Ordnung zu sein schien. Es roch allerdings ziemlich muffig und feucht darin, von außen fiel glücklicherweise genügend Licht durch die kaputten Fensterscheiben, so dass sie genügend sehen konnten. Es gab mehrere kleine, von unzähligen Spinnennetzen verwebte Räume, vermutlich war es einmal das Bürogebäude der Munitionsfabrik gewesen. Johann war der Meinung, einige Wände herausnehmen zu können, um einen größeren Wohnzimmerbereich zu schaffen, es gab kein Badezimmer und draußen, in einem niedrigen Anbau, lediglich ein halb verfallenes Plumpsklo.
Ein Keller existierte nicht.
„Wie willst du das denn allein und ohne Geld bewohnbar machen, Johann, das ist doch nicht zu schaffen!“, meinte Ella kopfschüttelnd, während sie sich den Staub von ihrer Bluse klopfte.
„Das mag für dich jetzt unvorstellbar erscheinen, aber ich sehe, was machbar ist“, antwortete Johann zuversichtlich.
„Na, da bin ich wirklich sehr gespannt, mein Schatz", fügte Ella skeptisch hinzu.
Der Juli 1932 rückte immer näher und meine Großeltern bekamen die Kaufsumme einfach nicht zusammen, so sehr sie sich auch bemühten, es reichte hinten und vorne nicht. Johanns Chef war lediglich bereit, ihm einen Lohnvorschuss von fünfhundert Reichsmark zu gewähren. „Besser als nichts, aber immer noch zu wenig", dachte Johann.“ „Wen könnte ich denn noch bitten, ob er mir etwas leihen würde“, überlegte er.
„Ich könnte meinen Bruder fragen“, sagte Ella, „er hat zwar selbst nicht besonders viel, aber mehr als nein sagen kann er schließlich nicht." Enrique lieh seiner Schwester schließlich 1000 Reichsmark, so hatten sie inzwischen 6820 Reichsmark beisammen, trotzdem fehlten ihnen noch immer RM 1180,-
„Was machen wir denn jetzt?“, grübelte Johann.
Schweren Herzens machte er sich auf den Weg, um seinem Freund Simon mitzuteilen, dass er die Summe einfach nicht zusammenbekommen könnte und er sich daher leider nach einem anderen Käufer umsehen müsste.
„Ja, was soll ich sagen, ich möchte aus Deutschland weg, irgendetwas braut sich hier zusammen, jetzt hat Hitler auch noch die deutsche Staatsangehörigkeit zuerkannt bekommen. Es wird Zeit für mich und meine Familie, von hier zu verschwinden. Johann, gib mir halt das, was Du kannst und wir sind quitt, ich weiß ja, wie sehr du dich bemüht hast, außerdem bist du mein bester Freund und hast mir oft geholfen!“
Sagte Simon traurig, wobei er mit den Fingern durch seine braunen Haare fuhr.
Meine Großeltern schufteten wie verrückt, um das Gelände von den Trümmern zu befreien, doch ohne Auto war es schwer für sie, das Geröll fortzuschaffen, so besorgte Johann sich einen Fahrradanhänger und transportierte
mühsam Stück für Stück weg. Es gestaltete sich aber als schwieriger als gedacht und so kamen sie nur extrem
langsam voran, es würde noch viel Zeit vergehen, bis sie endlich umziehen konnten.
Am siebzehnten Juli wurde Johanna fünf Jahre alt, es war ein herrlicher Sommertag. Ihre Mutter hatte einen leckeren Kuchen gebacken und Sophie durfte fünf kleine bunte Kerzen darauf platzieren. Sie konnte kaum den Nachmittag abwarten, bis sie endlich ein Stück davon bekommen würde, denn der verlockende Duft ließ ihr förmlich das Wasser im Mund zusammenlaufen.
Große Geschenke konnten meine Großeltern ihren Kindern nicht machen, war doch ihr gesamtes Geld für das neue Grundstück draufgegangen. So hatte meine Oma aus cremeweißem Leinen eine hübsche kleine Puppe genäht, die langen, braunen Zöpfe waren aus Wolle geflochten, das Kleid nähte sie aus einem alten Röckchen von Johanna, welches ihr längst nicht mehr passte, es war mit kleinen rosa und gelben Röschen bestickt. Die neunjährige Ella malte der Puppe ein lustiges Gesichtchen und nähte zu guter Letzt zwei Knöpfe als Augenersatz in das drollige Puppengesicht.
Kaum war sie damit fertig, klopfte es laut an der Eingangstür. Schnell sprang sie auf um zu öffnen. Es war der Paketbote, er kam sehr selten zu ihnen, eigentlich nur kurz vor Weihnachten und jedes Jahr zum Geburtstag von Johanna.
Aufgeregt nahm Ella das geheimnisvolle Paket entgegen, merkwürdig, dachte sie, warum bekommt eigentlich nur Johanna ein Päckchen, und von wem? Vorsichtig schüttelte sie das Paket, das sicher wieder ein schönes Geburtstagsgeschenk für ihre kleine Schwester enthielt.
Inzwischen war auch Johanna aufgestanden und stand mit großen Augen vor ihrem Gabentisch, den ihre Mutter liebevoll bereitet hatte. Mitten auf dem Tisch stand eine große Vase mit leuchtend weißen Margeriten, davor saß die selbstgebastelte Puppe. In einer Glasschale befanden sich mehrere rote Äpfel, blaue Weintrauben und ein paar verlockend riechende Himbeeren und natürlich der köstliche Kuchen mit den fünf bunten Kerzen, die Johanna sofort freudig auspustete, dann drückte sie die neue Puppe strahlend an sich.
„Komm schnell her, Püppchen, hier ist ein Paket für dich, mach es rasch auf und schau, was drin ist!“, rief ihre große Schwester Ella, die wie alle anderen Johanna wegen ihres niedlichen Aussehens „Püppchen“ nannte.
Johann eilte heran und riss ihrer vier Jahre älteren Schwester das Paket aufgeregt aus den Händen.
„Lass das Ella, ich mach's für sie auf, sie schafft es noch nicht allein!“
herrschte Johann seine älteste Tochter ungehalten an, woraufhin er eine Schere holte und mit gemischten Gefühlen die Schnüre der Verpackung durchschnitt.
Er wusste, dass sein Bruder Emil wie jedes Jahr aus Amerika für seine kleine Tochter, die er noch nie gesehen hatte, ein Geschenk geschickt hatte.
Schnell nahm er einen rosafarbenen Umschlag, auf dem in großen Buchstaben „Für Johanna“ stand heraus und steckte ihn rasch in seine Hosentasche, in der Hoffnung, dass es niemand bemerken würde.
Neugierig waren inzwischen alle vier Kinder herangekommen, um zu sehen, was sich in dem großen Paket verbarg.
Mein Großvater holte einen wunderschönen großen, hellbraunen Holzdackel hervor, Johanna jauchzte vor Freude, so ein schönes Spielzeug hatte sie nie zuvor gesehen. Der Dackel trug ein rotes Halsband, an dem eine Leine befestigt war, außerdem hatte er Räder unter seinen Pfoten, sie wollte sofort mit ihrem neuen Freund Gassi gehen, zu ihrer großen Freude wackelte der Dackel durch die Bewegung mit seinem Kopf und dem Schwanz. So ein schönes Geschenk hatte sie noch nie bekommen.
Meine Mutter erinnert sich noch heute gut daran. Ihren leiblichen Vater hat sie allerdings nie kennengelernt, nicht einmal ein Foto hat sie jemals von ihm zu Gesicht bekommen.
Mein Großvater zauberte noch diverse Naschereien aus dem Karton, genug für eine ganze Schulklasse. Die Zwillinge Johann und Sophie stopften sich gleich die Münder mit einigen dieser klebrigen Köstlichkeiten voll.
Ella, die große Schwester meiner Mutter, schaute auf den Absender: „aus Amerika!“ rief sie aufgeregt, „wieso aus Amerika, Püppchen kennt doch dort niemanden, wer schickt es ihr denn?“, sie sah noch einmal auf den Absender: „Emil Martens“, las sie verwundert, „wer ist denn das, wir heißen doch auch Martens. Papa, wer ist denn Emil Martens?“, wollte sie von ihrem Vater wissen.
„Euer Onkel“, antworte Johann ausweichend.
„Unser Onkel, aha, und warum ist er in Amerika?“
„Weil er dort leben möchte!“, wich Johann weiter aus.
„Und warum hat er mir kein Paket zum Geburtstag geschickt, oder Johann und Sophie?“, bohrte Ella weiter nach.
„Hör auf mit der Fragerei!“, sagte meine Großmutter.
Beleidigt zog sich die kleine Ella zurück.
Teil 37 folgt
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Kommentare
Ich freu mich schon auf die Fortsetzung und bin gespannt, liebe Angélique.
Liebe Grüße,
Annelie
Der Leser bleibt hier gern dabei -
Dein Text setzt wahres Leben frei!
LG Axel