Balzac Coffee

Bild zeigt Annelie Kelch
von Annelie Kelch

Manchmal stelle ich mich vor die große Glasscheibe des Balzac Coffees im Hauptbahnhof und starre auf die Öffnung, die zu den Gleisen führt.
Dann springt mich die Sehnsucht an wie ein Sandwich, das mit Karacho aus einem Toaster schnellt, und ich sehe sie wieder dort stehen und auf mich warten.

Ich bin fast 17 Jahre jung und habe noch Träume ...
Ich komme die Treppen heraufgelaufen, neben mir ein fremder Grenzer in Uniform, der meinen Koffer trägt, wozu ich ihn weiß Gott nicht ermuntert hab. – Was sie wohl denken mag? Ein wenig Angst beschleicht mich. Sie ist sehr streng.

Meine Mutter hatte mich bis nach Altona gebracht und dort „in den Zug gesetzt“: Nesthäkchen – zum ersten Mal allein auf Reisen.

Er war gerade zugestiegen und setzte sich mir schräg gegenüber, ins nächste offene Abteil. Der Zug wartete noch auf dem Gleis; bis zur Abfahrt würde es noch sieben Minuten dauern. Meine Mutter hatte sich von mir verabschiedet und mir vom Plateau aus zugewunken. Ich hatte brav gelächelt und zurückgewunken.

Als sie außer Sichtweite war, öffnete ich meine Handtasche, holte die Knarre raus und beförderte den Grenzer ins Jenseits. –

Blödsinn! Es war alles ganz anders …

Als sie außer Sichtweite war, öffnete ich meine Handtasche und holte die gute „Ernte 23“ raus, die mir mein Vater zu Hause noch heimlich zugesteckt hatte. Ich wollte sie gerade zum Mund führen, als meine Mutter wieder auftauchte. Was hatte sie nun schon wieder vergessen, mir einzuschärfen ...

Sie dürfen sich etwas aussuchen aus dem Kanon ihrer Predigten:

„Benimm dich! – Mach keine Dummheiten?! – Pass auf dein Geld auf. – Reiß deine Kleidung nicht entzwei, trage nicht ständig diese Nietenhosen, ärgere Oma nicht, hilf beim Abwasch, träum nicht dauernd, fahre nicht freihändig Fahrrad auf der Dorfstraße, sei höflich und nett, mach öfter mal den Mund auf, denke nicht ständig über irgendwelche Dinge nach, die du doch nicht ändern kannst, überlass das den Pferden, die haben den größeren Kopf ...“

Ich sah sie zurückkehren. – Dem Himmel sei Dank!

Nachdem ich zusammengezuckt war, als hätte ich einen brennend heißen Topf am Henkel berührt, warf ich die Zigarette in die Handtasche, und lächelte sie unschuldig an.

Sie kam ins Abteil zurück und beäugte den Grenzer, erblickte wohl annähernd das, was auch ich sah: solide, sehr groß, sehr schlank, dunkler Schnauzbart, dunkelbraune Haare, braune Augen – und ja, die Uniform, die war vertrauenserweckend. – Deutschland über alles – trotz allem!

Er durfte dort sitzenbleiben, mir schräg gegenüber; sie nickte ihm zu, er nickte zurück. Alles paletti. Ich wusste, er würde auf mich aufpassen. Schöner Mist!

Dann ging sie – endgültig, nachdem sie mir eine Tafel Schokolade überreicht hatte, für die ich mich lächelnd (pokerface) bedankte. Na ja, nette Geste doch, kann man nicht anders sagen.

Ich öffnete meine Handtasche und holte die gute Ernte 23 heraus. – Haben Sie etwas anderes erwartet?

Ich wollte das Stäbchen (Rauchen war damals „in“) zum Mund führen und anzünden, als ich die Stimme meines Hüters vernahm: Er räusperte sich und sagte: „Wir sitzen in einem Nichtraucherabteil, mein Fräulein.“

Shit happens. – Ich steckte die Zigarette zurück in die Handtasche und ließ die Bemerkung stecken, die mir gefährlich weit vorne auf der Zunge lag. Ich hatte nicht den Mut, das Abteil zu wechseln, gab mich geschlagen, übte Verzicht.

Sie hatte meinen Koffer nach oben auf die Gepäckablage gehievt, sehr unüberlegt; denn ich wusste nicht, wie ich das Ding wieder runterkriegen sollte, wollte mich keinesfalls blamieren. Möglicherweise stieg der Typ an der nächsten Station aus. Dann könnte ich wenigstens schon mal ein paar Versuche starten.

Tat er nicht, schaute mich stattdessen fast unverwandt an – wie ein braver Schäferhund, der auf mich aufpassen sollte, zwirbelte hin und wieder seinen Bart, sprach kein einziges Wort – Gott sei Dank. Ich war damals noch weniger gesprächig als heute.

Ich taufte ihn Hasso. So heißen alle guten deutschen Schäferhunde.

Sommerferien und super Wetter. Ich blickte aus dem Fenster; die Landschaft war nicht uninteressant, trug dieses schwarzweiße Kleid vom Otto-Versand. Na ja, es war gewiss nicht das schlechteste, aber ziemlich eng, und ich konnte damit nicht vom Perron springen und auch keine großen Schritte darin machen.

Lübeck – endlich. „Sie haben Anschluss an ...“

Ich erhob mich vom Sitz, um des Koffers mächtig zu werden; aber mein Aufpasser war bereits aufgesprungen und neben mir.

„Darf ich das für Sie erledigen?“

Ich nickte gönnerhaft. Wenn er denn unbedingt wollte ...

Wir stiegen aus; er mit meinem Koffer, den ich im Auge behielt. Es war nämlich ein Buch darin, das ich unbedingt lesen wollte. Alles andere war mir schnuppe!

„Darf ich Ihnen den Koffer hochtragen?“, fragte Hasso, mein Hofhund und Beschützer.

Ich nickte.

Was würde sie denken, wenn ich neben einem Uniformierten in der Bahnhofshalle auftauchte … Rauschgift im Koffer? – In den Zug gekotzt, weil mit Übelkeit geschlagen? – Die Fahrkarte verbummelt? Geflirtet auf „Teufel komm raus“? – Schwanger? – Mich unterwegs verlobt …?

Der Fantasie meiner Oma waren keine Grenzen gesetzt. Das liegt in der Familie.

Wir stiegen die Treppen hoch, Hasso und ich. Sie stand in Höhe des Balzac Coffees und sah uns entgegen, musterte Hasso von oben bis unten, und was sie sah, schien ihr zu gefallen: sehr groß, sehr schlank, dunkler Typ um die dreißig, gut aussehend, schmucke Uniform. SOLIDE.

Hasso bellte nicht; er lächelte Oma an, sie lächelte zurück. Hasso machte eine kleine Verbeugung, gentleman durch und durch, bedachte mich mit einem letzten glutäuigen Blick und entschwand für immer aus meinen Augen. Ich hab 's überlebt.

Oma küsste mich auf die unschuldige Wange und zog mich fort und aus dem Bahnhof heraus; ich schleppte den Koffer. Sie rannte mal wieder wie ,Nurmi', als wartete der Bus am ZOB nur darauf, uns vor der Nase wegzufahren. Wir waren in drei Minuten an der Haltestelle und mussten noch eine halbe Stunde warten. Wie immer.

Manchmal stelle ich mich vors Balzac Coffee, und dann sehe ich mich die Treppen hochkommen, neben mir ein fremder Grenzer, der meinen Koffer trägt; aber vor allen Dingen sehe ich Omi, wie sie dasteht und auf mich wartet, und oft steigen mir Tränen in die Augen. Dann setze ich meine Sonnenbrille auf und gehe einfach weiter ...

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