Die tausendjährige Stadt - Erinnerungen

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von Willi Grigor

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Eine Huldigung an ein liebenswertes Städtchen - sowie einen nicht minder liebenswerten Onkel dort, der auf gutem Wege ist, hundertjährig zu werden.

Vorbemerkung
Vor ca. 70 Jahren, in den 1950er Jahren - ich wohnte bereits in Düsseldorf - dachte ich mich oft und sehnsuchtsvoll zurück zu meinem liebgewordenen Kindheitsdorf Segringen in Bayern und dem nahegelegenen, pittoresken Städtchen Dinkelsbühl. Seit Langem wohne ich in einem anderen Land, seit einigen Jahren bin ich Rentner. Nach dem Abschluss des Berufslebens kamen mir die guten Erinnerungen aus meiner Kindheitszeit immer näher. Ich habe sie aufgeschrieben. Damit sie nicht verlorengehen.
In dieser Erzählung liegt der Fokus auf Dinkelsbühl und dem dortigen großartigen Volksfest "Kinderzeche", das jedes Jahr im Juli stattfindet.
Das folgende Einleitungsgedicht entstand während einer schwärmerischen Rückschau und ist eine Mischung aus Jugendträumerei und Fantasie.

***
Ich bin ein armer Wand'rer
und zieh von Stadt zu Stadt.
Die alte mit der Mauer
mein Herz gefangen hat.

Im Frühling, wenn die Sonne
die Winde wieder wärmt,
dann muss ich zu dem Städtchen,
von dem mein Herz so schwärmt.

Ich geh durchs "Tor der Tore"
und seh ihn stehen dort,
den "Brunnen vor dem Tore" -
den magisch schönen Ort.

Aus diesem "Löwenbrunnen"
ich oft getrunken hab.
Der Turm des Wörnitztores
mir seinen Schatten gab.

Hier sah ich einst ein Mädchen -
zwei Blicke trafen sich.
Nun, wenn ich wiederkomme,
auf sie hier warte ich.

Bis nach des Herbstes Ernte
man Feldarbeit mir gibt.
Wenn alle Blätter bunt sind
und fielen sacht hinab,
dann drücke ich mein Mädchen,
mir wünsch', dass es mich liebt
und nächstes Jahr doch wieder
mit mir am Brunnen steht.

Wenn blüht im Lenz der Flieder,
zum "Brunnen vor dem Tore",
nach Dinkelsbühl, zur Schönen
der Frühjahrswind mich weht.

("Tor der Tore" = Wörnitztor
"Brunnen vor dem Tore" = Löwenbrunnen)

***

Es gibt viele "tausendjährige" Städte, in Deutschland und anderen Ländern, und jede hat ihre Schönheiten, Vorzüge und Bewunderer.
Meine ist Dinkelsbühl im Landkreis Ansbach, Mittelfranken, Bayern und liegt an der Wörnitz, einem Nebenfluss der Donau. Die "Große Kreisstadt Dinkelsbühl" hat ca. 12000 Einwohner, einschließlich den mittlerweile 67 eingemeindeten Ortsteilen. Die Altstadt - die eigentliche "tausendjährige Stadt" - hat ca. 2000.
Wer an Dinkelsbühl denkt, denkt an diese gut erhaltene, historische Altstadt mit ihrer Stadtmauer, deren Türmen und Toren. Mit dem Bau der Mauer erhielt die Altstadt ab 1372 ihre heutige Gestalt. Die mächtige St.-Georgs-Kirche gibt der Altstadtmitte etwas Erhabenes.

Alle, die Dinkelsbühl kennen und lieben, haben ihre Gründe dafür. Ich habe einen großen, in dem sich viele kleine verbergen.

Nur wenige Tage nach dem Kriegsende am 8. Mai 1945 - ich war zwei Jahre alt - kamen meine Familie und weitere Verwandte sowie andere Personen im nahe bei Dinkelsbühl gelegenen Bauerndorf Segringen unter und wurden vom damaligen Bürgermeister Heinrich Schmidt und den übrigen Einwohnern freundlich aufgenommen.
Wir waren deutsche Umsiedler aus Rumänien, die - nach einigen Stationen in Bayern - in Polen landeten. Bis auf den Opa und zwei seiner Söhne überlebte unsere "Großfamilie" die unorganisierte Flucht aus Polen im Januar 1945. Mehrere kleine Gruppen wanderten auf unterschiedlichen Wegen Richtung Westen. Nach Monaten kamen sie in einem kleinen Lager auf dem nahe Dinkelsbühl gelegenen Hesselberg wieder zusammen. Kurz danach wurden wir von amerikanischen Soldaten auf einem Lastwagen zu dem kleinen Bauerndorf Segringen gebracht.
Für mich begann eine schöne Kindheit in Segringen, vor allem auch, weil ich in den Sommerhalbjahren ab 1948 tagsüber beim "Sesslerbauer" sein durfte - als Mitesser und Kühehüter.
Die "Spaziergänge" mit Mutter und Oma nach Dinkelsbühl habe ich fest im Gedächtnis. Das Städtchen zeigte durchaus Spuren des Krieges, wenn auch nicht die von Bomben. Es war eine lebende Stadt aus einer mittelalterlichen Welt. Damals gab es noch einige Viehbauern innerhalb der Stadtmauer.
Die "Kinderzeche" - das große historische Volks- und Festspiel zur Rettung der Stadt vor den Schweden im 30jährigen Krieg durch einen Schweden - war jeden Sommer d a s Ereignis in der Altstadt. Ich komme darauf zurück.

Mein letztes Jahr in Segringen, 1951, bereitete meiner schönen Kindheit ein frohes und ein trauriges Ende.
Das frohe: Elsa, das einzige Kind, "meines" Bauernehepaares Karl und Karoline Zerrer heiratete ihren Fritz am 13 November. Zusammen mit einem Bauernmädchen durfte ich, das Flüchtlingskind, weiße Blumen auf den Weg zur Kirche streuen und anschließend am Hochzeitsfest teilnehmen.
Das traurige: Nur Wochen später, einige Tage vor Weihnachten, zog unsere Familie nach Düsseldorf, eine Großstadt, die damals fast ebenso viele Ruinen wie Häuser hatte. Der Marsch vom Hauptbahnhof zu unserem zukünftigen Zuhause war ein Trauerzug für mich. Die Ruinen wurden meine Spielplätze und für die - auch zugezogenen - Freunde.
Ich vermisste mein Dorf, meine Kühe, die Kinderzeche. Ich träumte von ihnen und versuchte, mir meine Sehnsucht nicht anmerken zu lassen.
Mittlerweile waren alle Verwandten aus Segringen weggezogen - bis auf Onkel Jakob, die Oma und deren Schwester.
Es dauerte doch einige Jahre, bis ich in den Sommerferien mein Dorf und Dinkelsbühl wiedersehen durfte. Als ich am Bahnhof ausstieg, war ich schwarz vom Kohleruß der Lok, da ich fast nur durch das offene Fenster am Gang schaute. Aber ich war glücklich.
Ich wohnte einige Wochen bei Onkel Jakob, meiner Oma und ihrer Schwester in einem kleinen Häuschen (ein umgebauter ehemaliger Schweinestall, der bei einem Hausbrand verschont blieb) nur einige Meter vom Haus der Bauersfamilie, bei der ich mich die Nachkriegssommer immer gut durchessen durfte. Natürlich besuchte ich diese freundlichen Menschen, von denen ich beim Abschied 1951 einen 20-Markschein bekam. Das war viel Geld damals. Beim "Sesslerbauer" Karl Zerrer ("Sessler" war der Hofnahme) machte ich den "Traktorführerschein" innerhalb von Minuten. Der Bauer kletterte wieder auf den Heuwagen, der bereits halb voll war. Von unten bekam er Heu-Nachschub. Dann kam die Anweisung an mich: "Zwanzig Meter vor!" Ich gab zu wenig Gas oder Kupplung oder beides. Auf jeden Fall gab es einen ordentlichen Ruck und der neue Traktor stand still. Der Bauer konnte gerade noch seinen Fall verhindern.

Meine Oma und ihre Schwester (Tante Mili) luden mich ein zu einem Kinobesuch in Dinkelsbühl, 2,5 km Fußmarsch bis dorthin. Ich fragte: "Welcher Film wird gespielt?" Die Oma: "Weiß nicht, irgendeiner."
Bei der Ankunft war die Freude groß. Es war ein Farbfilm! Der Titel "Aida" sagte mir und den beiden Frauen nichts. Sie waren an der Grenze zwischen Rumänien und Ukraine geboren und aufgewachsen sind, bis das Schicksal mithilfe eines kriegerischen "Führers" sie und die Verwandten "Heim ins Reich" führte und von dort nach Polen.

© Willi Grigor, 2018

Ein empfehlenswerter Stummfilm aus einem aktiven Dinkelsbühl in den 30er Jahren:
http://film.assets.ushmm.org/MP4/RG602673_05132004_1050.mp4
(Die ersten 74 Sekunden überspringen, uninteressante Bauarbeitsszenen außerhalb Dinkelsbühl.)
Den Link erhielt ich von Hans Eisenhauer, danke dafür.

Siehe auch:
literatpro.de/prosa/100418/de-2011-zurueck-im-dorf-der-kindheit

Übrige Gedichte und Prosa siehe:
https://www.literatpro.de/willi-grigor

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