Die Sache mit der Wahrheit und dem Lügen

Bild von Britta von Kornblum
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Manchmal ist eine Lüge
oder das Verschweigen der Wahrheit
die bessere Alternative zur Wahrheit.

Ich war seit meinem Jugendalter eine Verfechterin der Wahrheit. Es war mir einfach zu anstrengend, Lügen zu erfinden und immer weitere dazu zu holen, um eine Lügenwelt aufrecht zu erhalten. Außerdem konnte mir jeder ansehen, wann ich gelogen hatte. Auch heute noch. Meistens. „Du sollst nicht lügen!“ Stimmt. Ich empfand das Angelogenwerden jedes Mal als einen Akt der Ignoranz und Arroganz, als bewusstes für-dumm-Verkaufen, als Zeichen, dass ich es nicht wert war, die Wahrheit zu erfahren oder am wahren Leben der anderen teilzunehmen. Eine brüske Zurückweisung, womöglich mit Häme und Hohn hinterm Rücken ausgetragen. Ich wollte und will so nicht behandelt werden. Deshalb habe ich auch bewusst ausgewählte Freunde und habe mich von einigen Menschen getrennt. Leider ist das mit der Familie und beruflichen Beziehungen nicht immer so einfach. Ich weiß, dass es hier Menschen gibt, die nicht ehrlich zu mir sind. Trotzdem muss ich irgendwie mit ihnen auskommen. Und gerade diese sind es, bei denen eine Lüge oder das Verschweigen der Wahrheit zu meinem eigenen Schutz und dem meiner Kinder eine Alternative ist. Das bessere vom Schlechten. Und damit sind keine gelegentlichen Alltagslügen gemeint, sondern der Schutz unserer Privatsphäre und unseres Familienlebens, das nach außen ganz normal erscheint, uns innerlich aber völlig zerrissen und auseinander geschleudert hat. In der Folgezeit des Findens und wieder Zusammenfindens wurde viel gelogen und verschwiegen. Wir hätten uns nur preisgegeben, waren ungeschützt verletzlich und hatten nur wenig Unterstützung. Natürlich waren da die Freunde und ein paar Verwandte, die uns ein bisschen Halt gegeben haben, aber Sortieren, Wunden verbinden und Heilen mussten wir schon selber. Wie waidwunde Tiere, die sich in ein Versteck zurückziehen, haben wir einen Schutzwall von Lügen und Verschweigen um uns gebaut. Und nach außen so getan, als wäre alles in „Geht so“- Ordnung. Während drinnen unsere Welt auseinander gesprengt worden war. Die Energie, die wir gebraucht haben, um diesen Wall aufrecht zu erhalten, hätten wir für unser neues Leben und die Neuorientierung dringend gebraucht. So mussten wir über unsere Kräfte hinauswachsen. Wenn man drin ist in der Situation, geht es immer irgendwie. Der Absturz kam dann erst nach ein paar Jahren. Ich musste mein Leben nochmal auf den Kopf stellen lassen, um einen guten Weg zu mir zu finden. Das braucht Kraft, Zeit und Mut. Hat aber geklappt.
Jetzt sind da halt noch die Lügen-Reste. Zum Schutz meiner Kinder sind sie noch wichtig. Für mich selber nicht mehr. Es sei denn, ich treffe auf Menschen, die mit der Wahrheit nicht gelassen umgehen können. Dann ist immer noch Schweigen angesagt. Und Ablenken. Funktioniert ganz gut. Trotzdem ist es mir zuwider. Deshalb halte ich mich meistens in der Dimension auf, in der unsere Wahrheit bekannt und nicht mehr wichtig ist. Für die anderen Dimensionen brauche ich unheimlich viel Kraft, um sie überstehen zu können. Und die fehlt mir manchmal. Oder ich will sie für diese Menschen einfach nicht aufbringen. - Bin ich etwa arrogant?

Oder bin ich ein besserer Mensch, weil meine Lüge die „ehrbarere“ ist?

Was, wenn die anderen unehrlichen Menschen eine ebensolche Motivation haben?

18.06.2020

Interne Verweise

Kommentare

18. Jun 2020

Was ist wahr? Was ist es nicht?
Was ist Lüge - was Gedicht ...

LG Axel

18. Jun 2020

Wahrheiten waren und sind (mir) wichtig, bis auf die Notlügen und die Wahrheiten, die anders verpackt werden müssen, damit andere und auch ich sie ertragen können und sie doch nicht ganz ihre Echtheit verlieren.

Sei lieb gegrüßt
Soléa

19. Jun 2020

Seufz... in unserer Dimension, wo es keine unverzeihlichen Fehler gibt, dafür aber Offenheit, Verständnis und Erhlichkeit mit den eigenen Gefühlen, da ist es leicht für mich. Meistens halte ich mich hier auf, nein, hier lebe ich. Trotzdem gibt es Situationen, in denen ich in die andere Dimension hineinsteigen und mich dort zurechtfinden muss. Das tue ich aber nur für die Menschen, die ich liebe, nicht für die Menschen, die ich dort antreffe. Und dort kann es sein, dass meine Notlügen gar nichts mehr mit der Echtheit gemein haben. Auch wenn mir das völlig gegen meine Werte aufstößt. - Hm... vielleicht sind es gar keine Dimensionen, sondern nur entgegengesetzte Pole... will ich mal drüber nachdenken.

Liebe Grüße an Dich1
Britta

18. Jun 2020

Auf keinen Fall ist das Arroganz, liebe Britta! Man muss sich auch selbst schützen, sondern würde man sich jedem ausliefern, wäre angreifbar. Es braucht zuerst Vertrauen, man muss einander trauen können, wenn man genau das sagt, was man denkt, wichtig ist ein wohlwollender Umgang miteinander - das sind meine spontanen Gedanken beim Lesen Deines Textes.

Sei herzlich gegrüßt,
Monika

19. Jun 2020

Liebe Monika,
da hast Du völlig recht. Es gibt halt leider auch die Menschen, denen ich nicht vertrauen kann. Dann fällt es mir unheimlich schwer, mich auf sie einzulassen. Weil ich weiß, dass ich nicht offen reden kann. Mit so einer Schwiegerfamilie ist das Leben dann ziemlich schwierig...
Liebe Grüße
Britta

19. Jun 2020

Am anstrengendsten für mich war immer Wahrheiten akzeptieren zu müssen, die keine sind...
deshalb habe ich meine eigene Wahrheit erfunden, damit mich die anderen wahrnehmen können...

LG Alf

19. Jun 2020

Prust! Dagegen musste ich mich immer auflehnen! Fanden meine Lehrer nicht so toll. Ich war immer die Renitente. Kann ich heute auch noch :))
Meine eigene Wahrheit erfinden und aufrecht erhalten - das muss ich immer noch aushalten, aber eher, damit mich die anderen NICHT wahrnehmen. Ich habe überhaupt kein Bedürfnis, von denen wahrgenommen zu werden. Es ist irgendwie immer ein Hinabsteigen zu denen , die noch am Boden kleben. Das brauche ich gar nicht mehr. Aber meiner Familie sind die anderen leider noch wichtig. Also stoße ich sie meistens nicht vor den Kopf und bemühe mich um Freundlichkeit. Mehr geht nicht.

Liebe Grüße an Dich!
Britta

19. Jun 2020

Vielen Dank, Ihr Lieben! Es ist schön, wieder bei Euch zu sein.
Britta

21. Jun 2020

Im Faust sagt Mephisto (Teufel) zu Wagner (Famulus von Faust): "Du gleichst dem Geist,den du begreifst. Nicht mir."
Unter diesem Aspekt sollte man die sehr interessante Kurzgeschichte noch einmal aufrollen. Die mögliche Erkenntnis:
Meine Welt ist nicht die Welt der ANDEREN Leider.
HG Olaf