Manchmal ist eine Lüge
oder das Verschweigen der Wahrheit
die bessere Alternative zur Wahrheit.
Ich war seit meinem Jugendalter eine Verfechterin der Wahrheit. Es war mir einfach zu anstrengend, Lügen zu erfinden und immer weitere dazu zu holen, um eine Lügenwelt aufrecht zu erhalten. Außerdem konnte mir jeder ansehen, wann ich gelogen hatte. Auch heute noch. Meistens. „Du sollst nicht lügen!“ Stimmt. Ich empfand das Angelogenwerden jedes Mal als einen Akt der Ignoranz und Arroganz, als bewusstes für-dumm-Verkaufen, als Zeichen, dass ich es nicht wert war, die Wahrheit zu erfahren oder am wahren Leben der anderen teilzunehmen. Eine brüske Zurückweisung, womöglich mit Häme und Hohn hinterm Rücken ausgetragen. Ich wollte und will so nicht behandelt werden. Deshalb habe ich auch bewusst ausgewählte Freunde und habe mich von einigen Menschen getrennt. Leider ist das mit der Familie und beruflichen Beziehungen nicht immer so einfach. Ich weiß, dass es hier Menschen gibt, die nicht ehrlich zu mir sind. Trotzdem muss ich irgendwie mit ihnen auskommen. Und gerade diese sind es, bei denen eine Lüge oder das Verschweigen der Wahrheit zu meinem eigenen Schutz und dem meiner Kinder eine Alternative ist. Das bessere vom Schlechten. Und damit sind keine gelegentlichen Alltagslügen gemeint, sondern der Schutz unserer Privatsphäre und unseres Familienlebens, das nach außen ganz normal erscheint, uns innerlich aber völlig zerrissen und auseinander geschleudert hat. In der Folgezeit des Findens und wieder Zusammenfindens wurde viel gelogen und verschwiegen. Wir hätten uns nur preisgegeben, waren ungeschützt verletzlich und hatten nur wenig Unterstützung. Natürlich waren da die Freunde und ein paar Verwandte, die uns ein bisschen Halt gegeben haben, aber Sortieren, Wunden verbinden und Heilen mussten wir schon selber. Wie waidwunde Tiere, die sich in ein Versteck zurückziehen, haben wir einen Schutzwall von Lügen und Verschweigen um uns gebaut. Und nach außen so getan, als wäre alles in „Geht so“- Ordnung. Während drinnen unsere Welt auseinander gesprengt worden war. Die Energie, die wir gebraucht haben, um diesen Wall aufrecht zu erhalten, hätten wir für unser neues Leben und die Neuorientierung dringend gebraucht. So mussten wir über unsere Kräfte hinauswachsen. Wenn man drin ist in der Situation, geht es immer irgendwie. Der Absturz kam dann erst nach ein paar Jahren. Ich musste mein Leben nochmal auf den Kopf stellen lassen, um einen guten Weg zu mir zu finden. Das braucht Kraft, Zeit und Mut. Hat aber geklappt.
Jetzt sind da halt noch die Lügen-Reste. Zum Schutz meiner Kinder sind sie noch wichtig. Für mich selber nicht mehr. Es sei denn, ich treffe auf Menschen, die mit der Wahrheit nicht gelassen umgehen können. Dann ist immer noch Schweigen angesagt. Und Ablenken. Funktioniert ganz gut. Trotzdem ist es mir zuwider. Deshalb halte ich mich meistens in der Dimension auf, in der unsere Wahrheit bekannt und nicht mehr wichtig ist. Für die anderen Dimensionen brauche ich unheimlich viel Kraft, um sie überstehen zu können. Und die fehlt mir manchmal. Oder ich will sie für diese Menschen einfach nicht aufbringen. - Bin ich etwa arrogant?
Oder bin ich ein besserer Mensch, weil meine Lüge die „ehrbarere“ ist?
Was, wenn die anderen unehrlichen Menschen eine ebensolche Motivation haben?
18.06.2020