Seiten
„Das muss es sein“, meinte Jürgen.
Eine halbe Stunde waren sie durch die Innenstadt gelaufen. Seit der Eröffnung des Shopping Centers auf dem Gelände der alten Textilfabrik waren sie nicht mehr hier gewesen. Das war sechs Jahre her. Die maroden Läden, von denen nicht wenige verrammelt waren, wirkten wie aus der Zeit gefallen. Agnes und Jürgen allerdings auch. Seine blauen Jeans mit Schlag, die abgenutzte, braune Lederjacke und das karierte Hemd darunter waren nicht gerade en vogue. Auch Agnes’ Kleid wirkte wie eines von Princess Margaret, das diese in ihrer Sturm-und-Drang-Zeit (also vor vierzig Jahren) getragen hatte.
„Hier war doch mal Gerds Reisebüro gewesen, oder nich?“, fragte Agnes.
Jürgen schaute auf das Geschäft, das, eingepfercht zwischen einem Blumenladen und einer längst geschlossenen Sparkassenfiliale, eher winzig daherkam. Er sah ein großes Schaufenster mit einem Commodore 64, einem Atari 500 und anderen alten Computern in der Auslage. Die Computer waren auf rotem Samt gebettet, das Fenster war einfach verglast, es hatte einen Holzrahmen, von dem die weiße Farbe schon abblätterte. Über dem Fenster war ein billiges Pappschild, das zumindest neu aussah. ‚Reisen Sie in die Vergangenheit mit Virtual Tours!’ stand dort in roten Lettern.
„Stimmt“, sagte Jürgen. „Ach ja, der Gerd.“
Einen Moment lang verharrten Jürgen und Agnes vor dem Laden. Sie wirkten wie kleine Kinder, die man zum ersten Mal zum Einkaufen geschickt hatte und die nun vor dem Supermarkt standen, als wäre es nicht nur ein Geschäft, sondern der Eintritt in die Welt der Erwachsenen.
Dann gingen sie hinein.
Der Laden war verwaist und nur spärlich möbliert. Ein schlecht verlegter, grünfarbiger Teppich kleidete den Boden aus, in den Ecken erkannte man das Linoleum darunter. Auf einem weißen Schreibtisch von IKEA stand ein moderner Computer: sehr flacher Bildschirm, kabellose Tastatur und Mouse, daneben zwei graue Kästen, schlichtes Design, Metalliclackierung. Wahrscheinlich Festplatten oder Speicher, dachte Jürgen, der keine Ahnung von moderner Technik hatte. Hinten im Raum standen noch zwei Vitrinen mit anderen elektronischen Geräten. Viele, kleine Dioden hinter dem Glas leuchteten grün oder rot.
„Hier ist niemand“, stellte Jürgen fest.
„Wir warten“, erwiderte Agnes.
„Lass uns lieber gehen“, meinte Jürgen.
Als sie eine Minute später kehrtmachten und zurück zum Eingang liefen, wurden sie von einer Stimme aufgeschreckt.
„Hallo, kann ich euch helfen?“
Agnes und Jürgen drehten sich wieder um. Aus dem hinteren Teil des Raumes kam eine junge Frau auf sie zugelaufen. Sie hatte schwarze Haare, die ihr helles Gesicht fast weiß aussehen ließen. Ihre grünen Augen strahlten groß und gütig auf Jürgen und Agnes. Als sie bis auf einen Meter herangekommen war, erkannte Jürgen den kleinen, silbernen Ring in ihrer Nase. Sie trug ein enges, weißes T-Shirt mit Ausschnitt, der üppige Busen darunter wurde durch den Büstenhalter hochgepuscht. Auch der Lederrock und die hohen, schwarzen Schaftstiefel verfehlten ihre Wirkung nicht. Jürgen musste sich Mühe geben, seinen Blick auf ihr Gesicht zu fokussieren.
Agnes, die weniger auf die Reize der jungen Dame reagierte, fasste sich zuerst. Sie holte ihre Handtasche nach vorne, öffnete sie und kramte kurz nach dem Gutschein.
„Den haben wir von unserer Tochter bekommen“, meinte Agnes knapp und reichte ihn der Frau.
„Zur Porzellanhochzeit“, fügte Jürgen fast entschuldigend hinzu.
„Herzlichen Glückwunsch“, sagte die junge Frau sogleich und deutete mit der Hand auf den Schreibtisch. „Ach, dann seid ihr der Vier-Uhr-Termin. Dann kommt mal mit! Ich bin übrigens die Jenny.“
Sie ging voran und setzte sich an den Schreibtisch. Jürgen und Agnes nahmen auf den beiden Stühlen davor Platz.
„Habt ihr alles dabei?“
Agnes nickte.
„Ich glaube schon. Wir haben Fotos mitgebracht, von damals halt.“
„Analog oder digital?“
„Ähm ...“, erwiderte Agnes und holte die Umschläge mit den Farbfotos heraus.
„Okay, also analog. Is’ kein Problem, wir jagen die gleich einmal durch den Scanner, dann sind die digitalisiert. Es kann sich allerdings auf die Farben und auf die Bildqualität, also auf die Auflösung im Virtual Room auswirken. Wir schaun gleich mal. Sind die Fotos sortiert?“
„Ja, natürlich“, gab Agnes zurück.
„Habt ihr ein bestimmtes Ereignis vor Augen, irgendein Urlaubsszenario, das ihr nochmal erleben wollt?“
Agnes warf einen kurzen Blick auf Jürgen. Der machte aber keine Anstalten, etwas zu sagen.
„Ja, also wir haben hier zwei Umschläge mit Fotos vom Urlaub am Gardasee. Das war 1981. Ich hoffe, dass das genügend Material ist.“
„Zeig doch mal her, bitte!“, meinte Jenny, nahm die Umschläge in die Hand und packte mit geübten Bewegungen die Fotos aus.
„Ja, das sieht gut aus“, meinte sie beim Durchblättern. „Wichtig sind halt Ganzkörperaufnahmen, im Idealfall ohne Kleidung. Nacktfotos von damals habt ihr nicht zufällig dabei, oder?“
Jürgen errötete leicht, Agnes hingegen blieb sachlich.
„Nein, nur die, die sie da haben.“
„Okay. Kriegen wir schon hin.“
Jenny legte die Fotos gestapelt in den Einzug eines Scanners, der hinter ihr auf einer Ablage stand. Mit einem Surren verschwanden sie im Inneren des Geräts. Dann tippte Jenny etwas in den Computer und dachte laut dabei.
„Die wesentlichen Informationen haben wir schon von eurer Tochter bekommen. Der Gutschein ist allerdings nur für die Basisversion. Ihr könnt noch das Enhancement-Special dazu buchen, das kostet nur zehn Euro mehr pro Person. Wenn ihr das nehmt, schmeiß ich noch unser Location-Refinement Programm gratis dazu. Da würden wir dann frei zugängliche Daten eurer Location, also dem Ort auf den Fotos, ins Programm integrieren, das wird dann really real, wenn ihr versteht, was ich meine. Soll ich das machen?“
Agnes und Jürgen verstanden kein Wort.
„Machen Sie mal!“, sagte Agnes schließlich und warf Jürgen einen Komm-is-doch-egal Blick zu.
„Supi!“, sagte Jessy und haute wieder enthusiastisch in die Tasten.
Für einige Minuten saßen sie schweigend da und schauten Jenny dabei zu, wie sie sich an der Tastatur samt Maus abarbeitete. Jürgen ergriff in der Zeit Agnes’ Hand und drückte sie einmal fest. Agnes schaute ihn liebevoll an und streichelte ihm kurz über den Unterarm.
„So, dann ist so weit alles eingestielt“, erklärte Jenny schließlich. „Dann können wir jetzt zu den VR-Räumen gehen.“
Jenny stand auf und kam hinter ihrem Schreibtisch hervor. Mit einem Blick bedeutete sie Agnes und Jürgen, ihr zu folgen. Die beiden standen auf und folgten ihr den schmalen Gang hinunter, aus dem Jenny vorhin gekommen war. Jürgen klopfte im Vorbeigehen an die Wand und merkte am hohlen Klang, dass es keine tragende, sondern eine Trockenbauwand war. Kurz danach blieb Jenny vor einer Tür stehen, machte diese