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sich umdrehte, erkannte er den Ort sofort wieder: die terrassenförmig übereinander liegenden Häuser, ihre flach geneigten, mit mediterranen Dachziegeln bestückten Walmdächer, die verwinkelten und blumengeschmückten Gässchen, die Olivenhaine und Zitronenbäume oberhalb der des Dorfes und der steile Berghang dahinter.
„Limone“, sagte Jürgen wehmütig in den kalten Raum hinein. Er sah zwar das italienische Dorf durch die Brille, fühlte aber noch die Gegenwart des deutschen Zimmers auf seiner Haut und in den Knochen. Gedanklich an zwei Orten, beurteilte er die Illusion. Warum riecht es nach Meer, wenn ich an einem See bin?, fragte er kritisch. Und warum höre ich kein Italienisch?
„Ciao, ragazzo!“, tönte es plötzlich, leicht blechern, aus dem Off. Jürgen drehte sich wieder um. Und sah tatsächlich: Agnes mit zweiundzwanzig, in ihren Originalkleidern von damals.
„Ciao, ragazza“, gab er keck zurück und strahlte seine digitale Agnes an. Sie trug das hellrote Blumenkleid, die schlanken, sonnengebräunten Beine und Arme glänzten vom leicht öligen Film der Sonnencreme. Ihr offenes, schwarzes Haar, der sinnliche Mund und die dunkelgrünen Augen machten sie ununterscheidbar von den italienischen ragazze, die ebenfalls am Hafen flanierten. Alles war wie damals. Bis auf Agnes’ Dekolleté. Das wirkte größer, viel größer als damals. Jürgen hatte nun eine Ahnung davon, was es mit dem ‚Enhancement-Special’ auf sich hatte.
„Na, Süßer“, sagte Agnes in einer Stimme, die ihre war und sich doch davon unterschied. Vielleicht hatte ihre Tochter Jenny mit Hörproben vom Handy versorgt.
„Hast du Lust zu bumsen?“
Das war direkt und freizügig, selbst für Agnes. Jürgen war ein wenig irritiert, seine eigene Frau so ordinär reden zu hören. Gleichzeitig war ihm bewusst, dass er es mit einer Kopie zu tun hatte.
„Lass uns doch erst was essen gehen, Schatz. Hier draußen ist es so schön.“
„Okay dann“, sagte die digitale Agnes und machte eine Schnute, als hätte sie eine Zigarette im Mundwinkel.
Jürgen fühlte sich wieder prüde. Im Grund hätte er Agnes hier, im ‚Freien’, an den übergroßen Busen fassen, ihr die Kleider vom Leib reißen und sie vögeln können, es war ja schließlich nicht echt. Es gab keine gesellschaftlichen Regeln, an die er sich hätte halten müssen. Aber er wollte trotzdem nicht. Außerdem hörte Jenny ja auch zu.
Stattdessen griff er nach Agnes’ Hand. Als er sie erfasste, spürte er einen Druck in den Handflächen und einen leichten Schlag, als ob er eine gewischt bekäme. Agnes’ echte Hand fühlte sich anders an, viel weicher und nicht so kalt. Jürgen sah plötzlich ganz in seiner Nähe ein Außenrestaurant mit kleinen Tischen und Chiavari-Stühlen aus Holz.
„Setzen wir uns doch!“, sagte er zu Agnes und ließ ihre Hand wieder los. Er machte ein paar Trippelschritte. Als er vor einem der Stühle stand und nach der Rückenlehne griff, ging sein Griff ins Leere. Er versuchte es nochmal und traf schließlich auf einen Widerstand, der sich gar nicht wie Holz anfühlte.
„Ach so“, dachte Jürgen. „Das ist der Bürostuhl im Raum. Naja, an der Illusion müssen sie wohl auch noch arbeiten.“ Er rollte den Bürostuhl zurück und tastete sich in den Sitz hinein. Das Gefühl von weichem Leder passte so gar nicht zu dem Holzstuhl aus seinem ‚Film’. Aber immerhin, er saß.
Jürgen schaute sich die wenigen Menschen in der Umgebung an. Einige trugen Kleidung aus den Achtzigern, andere wirkten sehr modern. Er sah ein junges Mädchen in Leggings und einem neonfarbenen Oberteil, mit einem Walkman in der Hand. Etwas weiter stand ein Mann in einem Businessanzug, in der Hand ein brandneues iPhone. Das Mädchen kannte er von den Fotos, den Mann nicht. Google StreetView, vermutete Jürgen. Die digitale Agnes sagte alldieweil nichts, saß leicht vornüber gebeugt, schaute Jürgen lüstern an und leckte sich dann und wann über die Lippen. Dann zuckte sie kurz zusammen. Die zeitlichen Abstände, in denen sie das tat, waren erstaunlich regelmäßig. Jürgen hätte gerne eine Stoppuhr dabei gehabt.
„Geht’s dir gut, Agnes?“, fragte er sein Gegenüber, um das Schweigen zu brechen.
„Ich habe Lust auf dich.“
„Okay“, erwiderte Jürgen. Agnes’ programmierte Geilheit ging ihm langsam ein bisschen auf den Keks.
Der Kellner kam und brachte unaufgefordert zwei Espressi.
„Prego, due espressi!“
Jürgen griff nach dem Espresso, doch seine Hand ging wieder ins Leere.
„Oh Mann“, sagte er laut.
„Tschuldige“, ertönte plötzlich Jennys Stimme aus dem Off. „Daran arbeiten wir noch.“
Jürgen, für den die Stimme aus dem Himmel über Limone kam, brauchte einen Moment, bis er verstand.
Agnes jedenfalls konnte die Tasse problemlos greifen und trank genussvoll den konzentrierten Kaffee. Als sie die Tasse abgesetzt hatte, warf sie Jürgen wieder einen herausfordernden Blick zu und wischte sich dabei mit der Zunge die haselnussbraune Schaumschicht, die Crema, von der Oberlippe.
„Ist dir auch so heiß?“, fragte Agnes.
„Es geht“, erwiderte Jürgen lapidar.
„Ich will dich so sehr“, sagte Agnes unbeirrt. „Lass uns aufs Hotelzimmer gehen.“
„Okay, tun wir das“, sagte Jürgen nach einer kurzen Pause. Mit Mühe und Not unterdrückte er den Nachsatz, der ihm durch den Kopf ging.
Plötzlich wurde Jürgen schwarz vor Augen.
„Okay, Jürgen, prima. Nimm jetzt bitte die VR-Brille ab und geh zurück zum Ausgangspunkt. Ich lade dann das Hotelzimmer-Programm hoch.“
Jürgen tat, wie ihm geheißen. Als er die VR-Brille abnahm, war die ohnehin wenig überzeugende Illusion sofort aus seinen Gedanken. Er sah den schnöden Raum, schaute an sich und seinem Ganzkörperanzug herunter und lachte ein kurzes, irres Lachen. Immerhin: Er sehnte sich nach der echten Agnes. Er konnte es kaum erwarten, mit ihr über diese ‚Tour’ zu sprechen.
„Es geht los. Brille auf!“
Jürgen seufzte und setzte sich die Sonnenbrille auf die Nase.
Er stand in einem luxuriösen Hotelzimmer, das viel zu modern für die 80er Jahre war. An der Wand hing ein Bild von Gerhard Richter, eins dieser Photorealismus-Dinger, die Jürgens Schwager aus Düsseldorf in der Wohnung hängen hatte. Die virtuellen Möbel hatten eine geradlinige Strenge, die kühl und kalt wirkte. Das Sofa war aus glattem, schwarzem Leder. Bevor Jürgen sich jedoch noch weiter umsehen konnte, ging die Tür zum Badezimmer auf und eine Frau kam herein. Durch das vom Badezimmer einfallende Licht nahm er zunächst nur ihre Silhouette wahr. Als sich seine Augen aber an das Licht gewöhnt hatten, erkannte er Agnes in ihrer ganzen, virtuellen Pracht. Ihr Gesicht war das von den Italien-Fotos: jung, braungebrannt und sinnlich. Aber ihr Körper passte leider so gar nicht dazu. Zunächst war die Haut viel heller, fast weiß. Außerdem war ihr Körper viel kurviger und draller, Agnes war 1981 noch viel schlanker gewesen. Die Brüste, verpackt in einen schwarzen Büstenhalter aus Spitze, wirkten jetzt wie kleine Fußbälle in Netzen. Die Strapse, das schwarze Höschen und die schwarzen Schaftstiefel wirkten insgesamt nicht erotisch, sondern billig. Für Jürgen sah es so aus, als hätte man den Kopf seiner Frau auf den Körper von Dolly Buster montiert. Oder Gina Wild, Jürgen kannte sich da natürlich nicht so aus. Auch die Bewegungen des Körpers passten nicht zum Gesichtsausdruck seiner Frau. Die digitale Agnes leckte sich auch wieder über die Lippen, so dass es Jürgen mittlerweile eher wie eine spastische Bewegungsstörung vorkam, nicht aber wie das sinnliche Verlangen seiner Ehefrau.
„Ich bin so feucht“, sagte Agnes.
Dann nimm doch einen Lappen und wisch es auf, dachte Jürgen. Wofür gibt es schließlich Handtücher?
„Und wie ich sehe, bist du auch schon ganz hart.“
Das war eine glatte Lüge. Bei Jürgen passierte nichts. Sein schlaffes Glied baumelte leb- und lustlos in der viel zu großen Kautschukhülle.
Agnes kam näher und näher.
„Nimm mich“, sagte sie fordernd und öffnete ihren BH. Ihre großen Brüste plumpsten unkoordiniert aus den Körbchen wie Hundewelpen kurz nach der Geburt.
„Nöö, lass mal“, sagte Jürgen entschlossen und nahm die VR-Brille ab.
„Jenny?“, rief er fragend in den Raum hinein.
„Ja?“
„Ich bin fertig!“
„Okay“, kam es gedehnt von Jenny. „Warte, ich bin gleich bei dir und helfe dir aus dem Anzug.“
Zwei Minuten später kam sie zur Tür herein.
„Na, das war aber eher coitus interruptus, was?“, meinte sie jovial.
Jürgen war nicht zu Scherzen aufgelegt. Schweigend zog er den Ganzkörperanzug mitsamt Lametta aus, ließ sich nur widerwillig von Jenny helfen und stieg wieder in seine Klamotten. Als er fertig war, verließ er den Raum und wollte eigentlich Agnes aus ihrem Raum ‚befreien’. Jenny überholte ihn jedoch im Flur und stellte sich schützend vor die Eingangstür der anderen Kabine.
„Halt“, sagte sie und klemmte sich mit ihren Extremitäten in den Türrahmen.
„Lassen Sie mich“, sagte Jürgen barsch. „Ich will zu meiner Frau.“
„Das geht nicht!“, sagte Jenny entschlossen.
„Wieso nicht?“
„Deine Frau ist noch nicht fertig, okay!?“
Jürgen wich zurück von der Tür. Sollte Agnes etwa, hatte sie vielleicht, sie würde doch nicht ...?
Er riss sich zusammen.
„Gut“, sagte er. „Dann warte ich draußen auf sie. Auf Wiedersehen!“
Ohne sich nochmal nach Jenny umzudrehen oder sich bei ihr zu bedanken, verließ er das ‚Reisebüro’. Zurück auf der Straße lehnte er sich bockig an eine alte Straßenlaterne und winkelte das Bein an. Er bereute augenblicklich, vor zwei Jahren mit dem Rauchen aufgehört zu haben.
Gut zwanzig Minuten später kam eine beseelt dreinschauende Agnes aus dem Laden. Sie lief federnden Schrittes auf Jürgen zu und küsste ihn liebevoll auf die Wange.
„Na, mein Hengst“, sagte sie lachend. „Wie war es bei dir?“
„Geht so“, meinte Jürgen und müsste sich Mühe geben, nicht die beleidigte Leberwurst zu geben. „Komm, lass uns gehen“, sagte er und zog seine Frau etwas unsanft mit. Agnes, etwas irritiert über die barsche Art ihres Mannes, folgte ihm, befreite sich aber alsbald aus dem Griff seiner Hand.
Schweigend liefen sie nebeneinander her durch die Wüstenei namens Innenstadt. Agnes wusste nicht, was in Jürgens Kabine vorgefallen war, fand es aber unfair, dass ihr eigenes Abenteuer durch Jürgens offenbar negative Erfahrung in Mitleidenschaft gezogen wurde. Sie konnte ja nichts dafür, dass es ihm nicht gefallen hatte. Man muss sich eben auch drauf einlassen können, fand sie. Jürgen wollte sich ebenfalls nicht die Laune verderben lassen und realisierte, dass es keinen Grund gab, auf Agnes sauer zu sein. Er erkannte, dass es wohl so etwas wie Neid auf sein virtuelles Alter Ego war, das seine Frau so betört hatte. Aber, so dachte er weiter, in dieser Figur hatte sie ja auch ihn erkannt, und somit auch ihre Liebe zu ihm bestätigt.
Jürgen blieb stehen, nahm seine Agnes in den Arm und lächelte sie entschuldigend an.
„Es tut mir leid“, begann er. „Ich glaube, ich habe mir einfach mehr davon versprochen. Vielleicht bin ich doch zu verklemmt.“
„Schon gut“, entgegnete Agnes fast zärtlich.
„Und?“, fragte Jürgen schließlich mit einem Grinsen im Gesicht. „Wie war ich?“
Agnes lachte.
„Wie der unglaubliche Hulk“, meinte sie. „Nur in weiß.“
Jürgen grinste. Dann nahm er seine Agnes noch fester in den Arm, fuhr ihr mit der rechten Hand durchs Haar und schaute sie liebevoll an. Der bestechende Blick ihrer dunkelgrünen Augen war für ihn immer noch magisch. Er presste seine Lippen auf ihren sinnlichen Mund und genoss den Geschmack seiner Frau inmitten der Kulisse einer längst vergangenen Welt. Plötzlich fühlte sich für ihn alles so echt und lebendig an wie schon lange nicht mehr.
„Lass uns nach Hause gehen“, forderte er. „Ich möchte dir noch was zeigen.“