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dumpfes Gefühl im Kopf, an einen sonderlichen Geschmack im Mund. An ein Gefühl aber kann ich mich seitdem nicht mehr erinnern: ein Gefühl für meine Beine.
Breite Schultern, dünne Knochen. Mein Sport, mein Training von Kindesbeinen an, rächte sich nun an mir. Vielleicht hätte ein Normalsterblicher mit handelsüblichen Knochen den Sturz so weggesteckt, ich aber war es gewohnt, mein aktives Körpergewicht nicht ständig tragen zu müssen und meine Knochendichte zahlte den Preis. Ist aber alles Spekulation, denn viel wichtiger war wohl: Ich hatte mich in der Brücke geirrt. Wir hatten nach einem Sieg von Jan eine Siegesfeier veranstaltet, uns ausnahmsweise mal so richtig die Kante gegeben. Und mit besoffenem Kopf war ich von der Brücke am Fluss gesprungen, die aber nicht die Brücke war, von der ich schon tausendmal gesprungen war, und wo das Wasser viel tiefer war. Dumm gelaufen, das Ganze.
Sechs Stunden lang wurde ich operiert, eine Titanplatte zur Stabilisierung wurde verbaut, dann sieben Tage Koma. Dämmerzustand auf der Intensivstation. Familie und Freunde kamen und gingen, ich nahm nichts davon wahr. Stattdessen: Visionen, dunkle Tunnel, ohrenbetäubender Lärm und grelle Lichter. Man kennt das. Oder man hat davon gehört.
Wenn einem vorher der eigene Körper gehörte, also so ganz, so richtig, so wie mir, wenn man jeden einzelnen Muskel, jede einzelne Faser trainiert und gefügig gemacht hatte, dann ist das Gefühl, nur noch oberhalb des Bauchnabels Kontrolle über seinen Körper auszuüben, ein zutiefst grausames Gefühl. Ein Gefühl der Auslöschung. Wenn man die eigenen Beine betrachtet wie die angeschraubten Beine eines Anderen, wenn sie wie ein Sack Zement vom Becken herunterhängen, dann ist die Frage nach Sex, nach einer Erektion so weit weg wie ein unentdeckter Stern. Wenn man sich mit Fragen quält wie die nach dem Sinn des Lebens, wenn man sich hasst, an sich zweifelt, sich lieber unter als über der Erde sehen will, wenn man die Freundin in einem Moment weit von sich stoßen und dann wieder ganz fest an sich drücken will, dann fragt man sich nicht, ob das schlaffe Ding zwischen den Beinen jemals wieder von in ihm pulsierenden Blut anschwellen kann. Sex und Erektionen sind dann erst einmal ein Luxus, den man sich nicht leisten kann.
Aber irgendwann, nach der Reha, irgendwann, wenn die Freundin wider Erwarten bleibt, zu einem hält, wenn man sich mühsam eine Art von Alltag im Rollstuhl erkämpft hat, dann ploppt die Frage plötzlich auf, wie eine Boje, die im Meeresgrund verankert war und sich nun gelöst hat: Können Sarah und ich wieder so etwas wie Sex haben?
*
„Geh alleine“, hatte Tom gesagt und auf den Fernseher gestiert. „Geh doch alleine!“
Im Fernsehen zeigten sie Jan, in Großaufnahme, mit Badekappe und Taucherbrille, wie er noch im Wasser war und in Richtung Anzeigentafel stierte. Dann die Gewissheit, die überbordende Freude, die sich in seinem Gesicht breit machte. Neuer Rekord. Olympia konnte kommen.
Also ging ich alleine.
„Wissen Sie“, sagte ich dann irgendwann im Gespräch zu Dr. Keuther, unserem Therapeuten, „ich habe ihn auch vorher am meisten geliebt, wenn er schwach war. Nicht, wenn er erfolgreich, stark und unbesiegbar war. Denn den Tom bekamen alle zu sehen. Aber der schwache, der an sich zweifelnde, der ängstliche Tom, der gehörte mir, nur mir. Und jetzt, wo er manchmal am Boden zerstört ist, frage ich mich, ob das vielleicht mein Fetisch ist. Sie wissen schon: der Samariter-Effekt. Oder Florence-Nightingale Effekt, oder wie immer man das auch nennen will. Dass ich ihn liebe, wenn und weil er schwach ist, damit ich mich stark fühlen kann. Damit alle sagen: Oh, wie treu sie doch ist, sie hält zu ihm, trotz seiner Querschnittslähmung. Sie ist unsere Königin der Herzen.“
Ich lachte verächtlich über mich selbst. Dr. Keuther ließ sich Zeit, schrieb etwas in seinen Block, runzelte die Stirn.
„Wir alle fragen uns, warum wir lieben“, meinte er schließlich. „Fragen uns, wie wir lieben und warum gerade den oder die, und nicht jemand anderen. Das ist normal. Wichtig ist, dass Sie wissen, dass Sie niemandem etwas schulden. Ihnen nicht und Tom auch nicht. Wenn er Sie unglücklich macht, wenn Sie das Gefühl haben, es nicht zu schaffen, Ihnen die Energie fehlt, dann ist das Gefühl existent und darf auch artikuliert werden, auch gegenüber Tom. Ihr eigenes Glück ist nicht zweitrangig, es hat einen Anspruch. Formulieren Sie ihn. Wenn Sie Tom aber lieben, Sie ohne ihn nicht leben können oder wollen, dann brauchen Sie keinen vernünftigen Grund, dann brauchen Sie nur ein Gefühl. Um es mit Erich Fried zu sagen: Es ist Unsinn, sagt die Vernunft. Es ist, was es ist, sagt die Liebe. Verstehen Sie?“
Ich ließ das Gesagte sacken, schaute aus dem Fenster, schaute wieder zu Dr. Keuther und nickte dann.
„Ich verstehe“, sagte ich.
Als ich wieder nach Hause kam, war Tom in der Küche. Er hatte Eier und Milch mit Zimt und Zucker in einer Schüssel verrührt, auf der Anrichte stand eine Packung Zwieback.
„Magst du arme Ritter?“, fragte er betont doppeldeutig und schaute mich verschämt und verstohlen aus den Augenwinkeln an.
Ich konnte nicht anders. Ich bückte mich zu ihm und umarmte ihn.
„Mein armer, armer Ritter“, sagte ich und küsste ihn auf den Mund.
Als wir zwanzig Minuten später am Tisch saßen und aßen, schaute ich ihn an. Es ist, was es ist, dachte ich, und biss in den Zwieback.
*
„Wie geht es Ihnen?“
„Besser. Viel besser!“
„Schön zu hören. Sie sehen auch besser aus. Mehr Farbe im Gesicht. Sie haben auch ein bisschen zugenommen, an Muskelmasse, meine ich.“
„Ergometer und Basketball. Man muss in Bewegung bleiben.“
„Sehr richtig.“
Eine kurze Weile schwiegen wir beide.
„Also, wie kann ich Ihnen helfen? Was führt Sie zu mir?“, fragte Prof. Dr. Brecht schließlich.
„Tja, also, jetzt, wo es so aussieht, dass Sarah und ich zusammenbleiben, haben wir uns natürlich gefragt, ob wir, also, ob es trotz meiner Behinderung möglich ist, dass ich, dass ich..“
„..eine Erektion bekommen kann!“, vollendete Prof. Dr. Brecht den Satz.
„Genau!“, nickte ich.
Prof. Dr. Brecht rückte mit seinem Stuhl näher an den Tisch heran. Für einen Moment wirkte es so, als wolle er sich zu mir hinüber lehnen und mir etwas ins Ohr flüstern. Stattdessen drückte er lediglich seinen Rücken durch und atmete einmal tief ein.
„Also, fangen wir