Den Krieg, der in der Luft lag, konnte ich riechen, so wie ich den Schnee vorausgerochen habe, der in den Tagen vor Weihnachten gefallen war. Ich bin ein friedliebender Mitbürger, ich habe mich geweigert, das Soldatenhandwerk als meinen Dienstbeitrag für das Gemeinwohl zu erlernen. Die Nachbarschaft um mich herum ist es, die ihre Umgebung wieder mit scharfen Fragen bombardieren wird: „Wer hat mit dem Schippen in aller Frühe angefangen?“ – „Kann man denn nicht einmal im Winter ausschlafen?“ – „Wer hat wieder nicht rechtzeitig geräumt, obwohl es spiegelglatt ist?“ – „Wohin mit dem schweren Matsch?“ Es wird auch nicht lange dauern, bis mein spezieller Nachbar hinter der Hecke hervor rufen wird. Er verteidigt nicht nur im Winter jeden Zentimeter seines im Grundbuch eingetragenen Reviers. Aber diesmal wird er vergebens drohen und aus seiner Wörterkanone ballern, denn der Himmel hört nicht auf ihn. Der Schnee breitet sich dort aus, wohin er fällt.
Ich schob und schaufelte feinsten weißen Pulverschnee vor die Granitmauer auf die Sickersteine. Da hörte ich schon das Wörtergrollen. Sehen konnte ich den Schützen noch nicht. Die Stimme hatte etwas verlauten lassen, das wie „schmeißen“ geklungen hatte.
„Was haben Sie gesagt?“, fragte ich laut, „Sie meinen wohl Ihre Katze.“
Der Nachbar kam hinter der Hecke vor gerannt. Die Pelzmütze auf seinem weißen Haarschopf wippte heftig. Seine schneeweiße Katze folgte ihm auf dem Fuß. Ich bemerkte sie, weil das Glöckchen an ihrem Hals bimmelte.
„Unterstehen Sie sich zu schmeißen auf meine Mausi!“ Obwohl er sich in gebrochenem Deutsch ausdrückte, fand ich das eher anerkennenswert. Ich muss nämlich gestehen, dass ich seine Heimatsprache nicht einmal buchstabieren könnte. Ich stichelte deswegen mit einem Kalauer: „Hab ich doch richtig gehört, schmeißen ohne m?“
„Ich habe nicht über Grenze gemacht“, verteidigte er sich. Er kann froh sein, dass ich keine motorisierte Schneefräse besitze. Warum setzte er den Zaun bis an den Rand der Fahrbahn?
„Unterlassen Sie Ihre unflätige Beleidigung und schamlose Unterstellung“, machte ich meinem Ärger Luft. „Ein zum Himmel und in die Nase stinkender Gestank ist der Katzendreck. Jeden zweiten Tag habe ich die Haufen ihrer Mausi aus meinem Rasen zu entfernen.“ Ich sprach nicht aus, was ich weiter dachte, aber ich dachte es: „Eines Tages werde ich deine Mausi dingfest halten, wenn ich sie in flagranti erwische. Oder ich fotografiere sie als Indiz.“
„Was Katze fallen lässt, habe ich nicht in Hand“, sagte er selbstsicher.
„Und ich nicht, was vom Himmel fällt“, konterte ich. „Wenn der Schneepflug durchfährt, schiebt er eine Mauer gegen den Maschendrahtzaun. Da kommt man kaum mit dem Auto durch.“
„Fliegt aber nichts auf mein Grundstück.“
„Aber es taut hinein. Heute ist keine Asche, kein Salz, kein Splitt, kein nichts außer purem Schneepulver auf meinem Schneeschieber. Ihre Katze ätzt das Gras mit jedem ihrer Haufen. Da wächst hinterher kein grüner Halm mehr und kein Gänseblümchen.“
Der Nachbar kam bis an den Zaun heran, die weiße Katze machte Männchen, krallte die Vorderpfoten in eine Drahtmasche und sperrte den Rachen auf, so dass ich ihre spitzen Fangzähne nicht übersehen konnte.
Ich deutete wortlos, aber ängstlich auf das Raubtier.
„Macht nix, gähnt nur, gell Mausi“, erklärte er. Dabei hob er die Schippe über seinen Kopf. Ich duckte mich reflexartig. Doch er tat mir nichts. Mit der Schaufel und seinen Gebärden schien er die rieselnden Schneeflocken vor dem Fallen aufhalten zu wollen. Er hantierte dermaßen vehement, dass er eine Pirouette um die eigene Körperachse drehte, die wankende Schneeschippe ihn aus dem Gleichgewicht brachte und er in den daunenweichen Pulverschneehaufen, den ich knapp über die Grenze geschoben hatte, purzelte.
„Macht nichts“, tröstete ich ihn, „er wäre sowieso weggetaut.“
Schneefälle
von Heiner Brückner
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