2020 sollte ein ganz besonderes Jahr werden und besonders wurde es in der Tat. Corona hat an die Tür geklopft, ist ohne Erlaubnis einfach eingetreten und nicht mehr gegangen.
Rückblick: Juli 2019, Portugal, ca. 40 Kilometer südlich von Lissabon, in den Dünen des Praia do Meco, Abenddämmerung, er und ich.
Die orangene Picknick-Decke ist auf dem weichen, von der Sonne noch aufgewärmten Sand ausgebreitet. Grüne und bunt-blühende Büsche und Dünenpflanzen umzingeln uns und der wilde, tiefblaue Atlantik dirigiert sein rauschendes Orchester. Wir sind alleine, nur unten am Strand ist eine Gruppe Jugendlicher, die in der Abendsonne einen Fußball hin und her kickt und – zu unserem absoluten Entsetzen – tatsächlich noch in das kalte Meerwasser springt. Aber auch die Jugendlichen ziehen bald weiter und lassen uns alleine zurück. Der Himmel verfärbt sich langsam in einen Mix aus Orange-, Rot- und Lilatönen, während der wilde Atlantik die Sonne allmählich verschluckt. Die Szenerie grenzt fast schon an Kitsch; wir erleben den absoluten Klischee-Sonnenuntergang und stoßen zum ersten Mal an diesem Abend mit Portwein an, den wir uns extra für den Abend gekauft hatten. Es ist ein wunderschöner Moment, nur wir beide in unberührter Natur mit einem lieblichen, leckeren Geschmack auf der Zunge. Wir unterhalten uns über dies und das, darüber, dass ich gelesen habe, dass sich die Mehrheit der Menschen den Unterschied zwischen einer Million und einer Milliarde nicht vorstellen kann. Zur Veranschaulichung: 1 Millionen Sekunden sind etwas mehr als 11 Tage. 1 Milliarde Sekunden sind über 31 Jahre (let that sink in…). Er schien nicht sonderlich beeindruckt und irgendwie war er den gesamten Abend schon merkwürdig ruhig. Nicht ahnend, was gleich auf mich zukommen würde, schaue ich mir den Sonnenuntergang weiter an und genieße den Moment weit weg vom Alltag. Keiner von uns spricht, es ist kurz still, aber die angenehme Art, nicht diese peinliche Stille, bei der man krampfhaft versucht, das nächste Gesprächsthema zu finden. In diese Stille hinein erzählt er mir plötzlich, dass er in seinem Leben keine andere Frau mehr an seiner Seite haben möchte. Ich falle ihm fast schon ins Wort und möchte ihm sagen, dass es mir genauso geht, doch in diesem Moment sehe ich den Ring in seiner Hand und mir bleiben die Worte einfach im Hals stecken. Ich weiß gar nicht mehr, ob er klassisch gefragt hat, ob ich ihn heiraten möchte. Ich weiß nur noch, dass wir uns mit Tränen in den Augen in den Armen liegen. Den Abend unserer Verlobung werde ich wohl nie vergessen. Er war so wunderbar unaufgeregt. Wir stoßen ein weiteres Mal mit Portwein an.
Heute: Juni 2020, Deutschland, 2. Etage unserer Maisonette-Wohnung, am Schreibtisch, ich.
Ein weiterer Tag im Home-Office, der wievielte kann ich schon gar nicht mehr sagen. Ich habe aufgehört, die Tage bzw. Wochen zu zählen, in denen ich von zuhause aus arbeiten muss. Also sitze ich mal wieder an meinem häuslichen Schreibtisch und warte, bis ich Arbeitsaufträge per E-Mail erhalte. Meine Kollegen habe ich das letzte Mal vor zwei Wochen über Zoom gesehen. Jetzt weiß ich immerhin, wie die Arbeitszimmer (und Küchen und Wohnzimmer) meiner Kollegen eingerichtet sind. Jedes Mal, wenn ich doch ins Büro fahre, ist das Gebäude gespenstisch leer, eigentlich macht es keinen Unterschied, ob ich im Home-Office oder im Büro arbeite – alleine bin ich an beiden Orten. Gestern erhielt ich eine weitere Info-Mail von meinem Vorgesetzten zur Bewältigung der Corona-Pandemie: „Die Arbeit von zuhause ist nach wie vor bis auf weiteres der Regelfall.“ Überrascht darüber bin ich nicht mehr und an die Arbeit im Home-Office habe ich mich längst gewöhnt. Auch an die guten Seiten (ich möchte ja nicht alles schlecht reden), daran, dass ich mich nicht mehr jeden Tag schminken muss, die Wäscheberge eindeutig kleiner sind, ich konzentrierter und schneller arbeiten kann und dass die Pendelstrecke ins Büro nun nur ein paar Schritte sind. Auch hat sich schnell eine gewisse Routine eingeschlichen: aufstehen, frühstücken, an den Schreibtisch setzen, mit dem Büro-Server verbinden, To-Do Liste schreiben und anfangen, diese abzuarbeiten. Gegen 11 Uhr mache ich meist eine kleine Pause, um meinen täglichen Muffin zu essen. Während ich meinen Muffin mampfe, lande ich unweigerlich auf der Internetseite der größten neuseeländischen Tageszeitung, dem NZHerald. Auch wenn ich mir jedes Mal vornehme, heute nicht nach der aktuellen Corona-Situation im Land zu schauen, finde ich mich trotzdem immer auf der Webseite wieder. Es ist wie eine Sucht, eine unsichtbare Kraft, die mich komplett in ihren Bann zieht, gegen die ich mich nicht wehren kann. Wahrscheinlich möchte ich mir unterbewusst noch nicht eingestehen, dass wir im November nicht wie geplant in Neuseeland heiraten können. Der klitzekleine Funke Hoffnung scheint stark genug, dass ich mich jeden Tag aufs Neue mit weiteren schlechten Nachrichten aus NZ quäle. Denn gute Nachrichten gab es schon lange nicht mehr; die Grenzen bleiben dicht. An dieser Stelle sollte ich unsere Hochzeitspläne vielleicht ein wenig weiter ausführen: Mach die Augen zu und stell dir den schönsten Ort auf dieser Erde vor. Hat es geklappt? Hast du ein bestimmtes Bild vor Augen? Ok, jetzt multipliziere die Schönheit deines schönsten Ortes mit 1.000. Fertig? Erst jetzt kommt dein Ort an die Schönheit des Lake Pukaki und die umliegende Bergkette heran. Das opalfarbene Wasser des Sees scheint nicht von dieser Welt zu sein. Es leuchtet so stark, dass dein Verstand nicht begreifen kann, dass es tatsächlich Realität und kein übler Trick deiner Vorstellungskraft ist. Man möchte es anfassen, den Finger ins Wasser stecken, nur um zu prüfen, ob der Finger auch tatsächlich nass wird. Um einen herum sind weit und breit keine Häuser, Straßen oder Menschen. Nur man selbst und die pure Natur. Sattgrünes Gras, blühende Lupinen und schneebedeckte Berge am Horizont, die sich leicht im schimmernden Wasser spiegeln. Es ist ein wahrlich magischer Ort. Ich bin kein sehr spiritueller Mensch, doch als ich zum ersten Mal dort war, hatte ich sofort das Gefühl einer tiefen Verbundenheit. Mein früheres Ich schrie laut in mir auf und ließ mich wissen, dass dies für „uns“ ein ganz besonderer Ort ist. Und genau dort, am Ufer des türkisschimmernden Sees wollten er und ich im engsten Kreis einander ganz offiziell bestätigen, dass wir den Rest unseres Lebens miteinander verbringen wollen (oder meistens zumindest – man muss ja realistisch bleiben und den ein oder anderen Streit mit einplanen). Das Haus direkt am See war gebucht, auch der Termin der Trauung stand fest: Freitag, 13. November um 16 Uhr.
Abergläubig bin ich nicht, dennoch hat uns dieses Datum kein Glück gebracht. Das Corona-Virus hat uns allen viel genommen, doch die Liebe zu meinem jetzigen Ehemann kann mir kein Virus dieser Welt nehmen. Schlussendlich wurde es eine Hochzeit inmitten des zweiten Lockdowns, nicht in Neuseeland, nicht am türkisfarbenen See und noch nicht einmal in einem netten Restaurant in Deutschland, dafür aber mit dem Menschen, den ich liebe. Danke.