Medea packt aus; Kurzkrimi; nicht allzu ernst nehmen

Bild zeigt Annelie Kelch
von Annelie Kelch

Ich stürmte das Vorzimmer mit der gezückten Dienstwaffe meines Bruders, der sie frü­hestens vermissen würde, wenn die Sonne sich anschickte, ihr abendliches Bad in der Elbe zu nehmen. Er hatte bis zum Morgengrauen die facettenreiche Kundschaft auf der Davidwache „bedient“ und stand kurz vor einer Nervenkrise, ehe er ins Bett fiel und augenblicklich in den Schlaf sank.

Nachdem ich die verdutzte Sekretärin, ein Barbie-Püppchen mit dramatischem Make‑up, in den Garderobenschrank gesperrt hatte, öffnete ich die Tür zum Büro. Da saß er ‑ hin­ter einem protzigen Schreibtisch, klein und glatzköpfig, ein billiger Abklatsch von Carlo Ponti. – Ich hätte null Talent, hatte er gestern getönt – vor tausend Leuten. Die Theater­karriere könne ich vergessen. Ich ‑ die Medea spielen ... der Witz des Jahrhun­derts!

Ich schob meinen Busen, der, bedingt durch die ungewohnte Freiheit, unter der transparenten Bluse fröhlich auf und nieder hüpfte, über das tropenhölzerne, luxuriöse Möbelstück, für das todsicher ein Stück Re­genwald draufgegangen war. Das genügte voll und ganz, um mich auf hundertachtzig zu bringen. Ich streifte die High Heels von den Füßen, entledigte mich des hautengen Minirocks, schleuderte den Hauch von Bluse auf den Kopierer und wickelte meinen nackten Körper tunikamäßig in ein blütenweißes Laken.

Möchtegern‑Ponti glotzte mich an. Sein Mund stand offen und formte ein instabiles 'O'. Ein Speichelfaden rann an seinem Kinn hinunter, als begänne eine Spinne vom Mundwinkel aus ihr Netz weben. Während ich die Heckler & Koch, Kaliber 9 mm, aus deutscher Waffenschmiede, auf ihn gerichtet hielt, kramte ich die Handschellen hervor, die sich in meiner Umhängetasche befanden. Er ließ sich widerstandslos von mir fesseln. Ich legte die durchgeladene Waffe zwischen uns auf den Tisch.
Sodann rief ich mir mit voller Absicht und grenzenloser Wut im Bauch Martin ins Gedächtnis, der mich und unsere drei Kinder wegen eines blutjungen Flittchens auf einem Berg Schulden hatte sitzen lassen und seit drei Wochen unauffindbar war. Wenn ich die Rolle der Medea nicht bekäme, würde ich mir das Geschwafel von den Brüdern und Schwestern auf dem Sozialamt anhören müssen. Mein Zorn wuchs bei dieser Aussicht ins Unermessliche.

Ich kletterte auf den Schreibtisch, warf mich in Pose und deklamierte erhobenen Hauptes: „Ich gebiete dir Einhalt, Jason, zu labern von künftigen fürstlichen Geschwistern, die Ehre und Glanz über unsere Söhne bringen sollen, als seien sie wertlos ohne die Brut die­ses skrupellosen Weibes, Kreons missratener Tochter, die dummdreiste Glauke.“ ‑ Ich zeterte: „Jason, du Missgeburt, mich und die Kinder ins Verderben zu stürzen, sollst du, beim Zeus, am Kreuze bereuen.“
Ich fühlte mich in meinem Element und raste ins Vorzimmer, um Barbie aus dem Schrank zu zerren. Ich schubste das Herzblatt auf den Besucherstuhl vor Klein Pontis Schreibtisch, und derweil ich sie mit der brüderlichen Knarre in Schach hielt, erlöste ich Pontis rechte Hand, die käseweiß, kurzfingrig und wabbelig wie Götterspeise war, von der Fessel, um damit Barbies Linke an die Besucherlehne zu pinnen. Mir war jedes Pub­likum recht, mochte es noch so beschränkt sein.

Ich schnappte mir den reichlich bestückten Aktenordner, der auf dem Tisch herumlag, ließ ihn mit voller Wucht auf Pontis kahle Platte sausen, immer wieder und wieder, während ich wütend schnaubte: „Ich, Medea, aus dem Geschlecht des Äetes von Kolchis, habe dir, schnöder Jason, mit meinem Zauberöl dereinst zum Goldenen Vlies verholfen, schon vergessen, treuloser Lump? ‑ Ich, Medea, die du verlassen und verstoßen hast, Elender, um zu freien Kreons Blag, die arg verzogene Fürstentochter, empfänglich für Geschmeide und Flitter jedweder Couleur! Möge Zeus mich rächen, Verruchter, und Schande über dich und dieses eitrige Land bringen. Möge Zeus Iolkos in Trümmer legen, in Schutt und Asche ...“ ‑ Ich verwandelte mich in ein rasendes Weib, einer Furie gleich, und brüllte eine Spur zu ordinär, was sich leider nicht vermeiden ließ: „Wegen dir, Mar­tin, du flachwichsender Dummschwätzer, habe ich Hand an unsere Söhne gelegt – Kin­dermörder, sekundärer! Ich pfefferte den total zerfletterten Aktenordner in die Ecke.

Barbie schluchzte hemmungslos – vor lauter Ergriffenheit. Und Ponti ...? Ponti war ver­stummt, so gut wie sprachlos geworden; meine grandiose schauspielerische Leistung hatte ihn jeglicher Worte beraubt. Sein Kopf war auf die Brust gesunken, und aus seinem Mund rann ein Fädchen Blut übers Kinn und tropfte auf sein weißes Hemd. O mein Gott, dachte ich. Er hat sich doch nicht etwa ... sozusagen infolge gesteigerter Verzücktheit ... auf dem Gipfel meines Spiels ... von uns geschlichen, dieses Rabenaas?

Mir fiel mit einem Mal ein, dass (Höllen‑)Fürst Kreon, Martins Schwiegervater in spe, gedroht hatte, mir einen Zyklopen auf den Hals zu hetzen, sollte ich das Land nicht bin­nen vierundzwanzig Stunden verlassen haben.
Nachdem ich das extravagante, mit Goldlamé überzogene Telefon in Barbies Reichweite gerückt und ihr den Schlüssel für die Handschellen in den rotzfeucht geflennten Schoß geworfen hatte, damit sie sich um Ponti kümmern und gegebenenfalls für seine Beerdi­gung sorgen konnte, machte ich mich schleunigst auf den Weg zum Aeroport, wo Hekate, die Gute, den geflügelten, drachenbespannten Wagen für mich auftanken ließ. Es wurde allerhöchste Zeit, den Flugverkehr aufzumischen und mich aus dem Staub zu machen.

2. Preis beim Kurzgeschichtenwettbewerb Thema "Vorspiel"; Herbert Utz Verlag

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