Gefährlicher Sommer (Teil 18)

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von Annelie Kelch

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„Auch ist das vielleicht nicht eigentlich Liebe,
wenn ich sage, dass du mir das Liebste bist; Liebe ist,
dass du mir das Messer bist, mit dem ich in mir wühle.“
(Franz Kafka)

Abschied von Hannes (Teil 18, Text 1)

„Na, Katja“, sagte Opa, nachdem ich mich zu ihm in die Laube gesetzt hatte. „Musste das gestern wirklich sein?“
„Ach Opa, jetzt bist du also auch gegen mich, nur weil ich mir nicht dauernd anhören wollte, dass meine Kleidung schmutzig werden könnte. Wer fühlt sich denn dabei noch wohl?“, stöhnte ich. „Weshalb könnt ihr mich nicht ganz einfach mal in Ruhe lassen?“

Ich war Opa sehr dankbar, dass er ein neues Thema anschnitt. „Heute abend kommt die Gnädigste zurück, Katja“, sagte er. „Ich habe manchmal den Eindruck, dass auf dem Gut alles drunter und drüber geht, wenn sie abwesend ist.“
„Und wenn niemand in der Nähe ist, der so schön singt wie die Gnädigste“, ergänzte ich lächelnd.
Opa nickte heftig. Ihm schien Frau Brandner wirklich sehr zu fehlen. Mir fiel plötzlich ein, dass ich Hannes zu Tante Selma folgen wollte; aber ich brachte es nicht übers Herz, Opa allein in der Laube zu lassen. Er saß ja meistens ohne Gesellschaft dort; denn sobald es überhandnahm mit den Frauen auf den einigermaßen kühlen Bänken und die Laube sich bis unters Dach füllte und zu bersten drohte, verzog er sich lieber ins Haus, setzte sich in seinen gemütlichen Ohrensessel und las ein Buch oder sah fern.
„Das ist aber lieb von dir, Katja, dass du mir ein wenig Gesellschaft leistest“, sagte Opa. „Unser Axel hat leider sehr selten Zeit, sich mit mir zu unterhalten, und Helge ruht sich eigentlich nie bei mir aus. Heute musste er außer der Arbeit im Kuhstall und auf den Pferdekoppeln auch noch die Hühner füttern, der Ärmste.“
Ich verzog das Gesicht und Opa sah mich überrascht an. Wie kann er sich in Helge nur so täuschen, dachte ich.
„Aber Knut … Knut hat sich doch jeden Tag ein wenig Zeit für dich genommen, nicht wahr, Opa?“
„Ja, ja, der Knut, das war wirklich ein feiner Kerl“, sagte Opa nachdenklich. „Obwohl ich es nicht richtig fand, dass er dich wegen eines zugenähten Schlafanzugs in den Teich geworfen hat.“
„Ach, Opi“, lachte ich, „das habe ich Knut kein bisschen übel genommen. Auf diese Weise habe ich wenigstens in Erfahrung bringen können, was da unten im Tümpel alles herumkriecht.“
Opa griente schelmisch. „Da kommt dein Hannes“, sagte er und deutete zum Hof hinaus, den ,Macheath' mit langen Schritten überquerte. Ich sah schon von Weitem, dass er ziemlich wütend war.
„Katja Kleve“, schimpfte er, als er vor uns stand. „Wir warten seit einer Ewigkeit bei Tante Selma auf dich. Weshalb kommst du nicht?“
„Guten Tag, Hannes“, begrüßte Opa ihn freundlich.
„Tag, Herr Franzen“, sagte Hannes. „Entschuldigen Sie bitte, aber Katja hat mir versprochen, zu Tante Selma nachzukommen.“
„So richtig versprochen habe ich es aber nicht, Hannes“, widersprach ich und dachte dabei an Ehrenwort und Schwur.
„Sei doch nicht so missmutig und kindisch. Leiste mir und Opa lieber ein wenig Gesellschaft.“
Hannes sah mich ärgerlich an und ließ sich neben Opa auf die Bank sinken.
„Na, Hannes, geht es nun morgen in aller Frühe mit dem Fahrrad nach Lübeck?“
„Ja, Herr Franzen. Und ich bleibe höchstwahrscheinlich über Nacht dort. Am Mittwochabend bin ich aber ganz gewiss wieder zurück.“
„Ich hoffe nur, dass du vorsichtig fährst, junger Mann“, sagte Opa. „Und nicht freihändig wie zwei gewisse junge Mädchen im letzten Jahr, die die Dorfstraße mit ihren Fahrrädern unsicher machten. Es waren nicht weniger als drei Treckerfahrer, brave, fleißige Landwirte, die bei der Gnädigsten angerufen und sich beschwert haben.“
Mir lief vor lauter Schreck ein kalter Schauer über den Rücken; aber Opa sah mich mit einem verschmitzten Lächeln an. Also reg dich bloß nicht auf, liebe Christine, es war gewiss halb so wild, sonst hätte uns die Gnädigste zwecks Buße und Wiedergutmachung noch vor unserer Heimfahrt bei sich antreten lassen.
„Kenne ich die beiden Mädchen zufällig, Herr Franzen?“, fragte Hannes und freute sich wie ein Honigkuchenpferd.
„Beide nicht, Hannes, aber eine von beiden“, gab Opa lächelnd und mit einem Augenzwinkern zur Antwort.
„Das habe ich mir doch gleich gedacht“, lachte Hannes.
„Opa, das sagst du doch nur so. Ich glaube nämlich nicht, dass sich deshalb jemand über uns beschwert hat. So gefährlich waren unsere Manöver nun auch wieder nicht.“
„Katja, man muss sich als Verkehrsteilnehmer vernünftig und umsichtig verhalten, zumal unsere Dorfstraße kaum breiter als ein Feldweg ist“, belehrte mich Opa im strengen Tonfall, der mir an ihm neu war. Er schien es tatsächlich ernst zu meinen.
„Ja, Herr Franzen, da haben Sie vollkommen Recht“, pflichtete ,Macheath' ihm eifrig bei. – Ausgerechnet Hannes, liebe Christine, der den Lachauer Forst in einem Affenzahntempo zu durchqueren pflegt, als wüchsen dort weder Bäume noch Sträucher.
Wir schwiegen eine Weile, hingen unseren Gedanken nach und träumten vor uns hin. (Hannes dachte gewiss an das Lübecker Landgericht und fühlte sich unbehaglich.) Es hatte sich nämlich ein Anflug von Verzweiflung in sein Gesicht gegraben. Ich folgte mit den Augen unablässig dem abstrakten Muster auf Omas bunter Wachstuchdecke und grübelte darüber nach, welcher von den zahlreichen Treckerfahrern, denen wir letztes Jahr das Fürchten lehrten, sich beschwert haben könnte, und weshalb die Gnädigste uns nicht zur Rede gestellt hatte.
Als Hannes mich anstieß, fuhr ich erschrocken aus meinen Gedanken hoch und folgte seinem Blick, der lächelnd auf Opa ge­richtet war. Opa war zur Seite gesunken, hatte seinen Kopf auf eines von Omas bestickten Sofakissen gebettet, und schlief wie ein Baby. Er atmete tief und regel­mäßig, ohne auch nur den geringsten Schnarchlaut von sich zu geben. Sein Mund war leicht geöffnet.
Hoffentlich fliegt keine hundsgemeine Stichimme hinein, dachte ich und erinnerte mich mit Schaudern an den roten Buckel zwischen meinen Brauen, den eines dieser Plüschmonster vor wenigen Tagen auf meiner Stirn hinterlassen hatte. Ich wagte jedoch nicht, Opa den Mund zu schließen. Er wäre gewiss aufgewacht.
„Komm, Katja“, flüsterte Hannes. „Heute ist unser letzter Tag. Wir werden uns fast zwei Tage lang nicht sehen.“
„Wie soll ich das nur aushalten?“, lächelte ich.
Als wir neben der Veranda standen, begann ich, die Stufen hinaufzu­steigen.

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