Eine Reise in die DDR stand kurz bevor, der Besuch bei meinen Tanten und Cousinen angekündigt, das Visum genehmigt, die Fahrkarte via Moskau bereits in der Tasche. Nun sammelte ich die Wünsche meiner kleinen Familie ein. Meine Töchter äußerten viele Wünsche, mein Vater hatte nur den einen. Er wünschte sich neue Hauschuhe, keine kasachischen oder sowjetischen, nein, aus der DDR sollten sie sein, besorgt von seiner Schwester Olga.
Das Wiedersehen mit meiner großen Familie war wunderschön, die Zeit verflog im Nu. Nach dreißig Tagen kehrte ich nach Kasachstan zurück. Unbeschreiblich die Szenerie des Auspackens, die Freude der Kinder über die hübschen Kleider und Schulutensilien. Meine Mutter freute sich besonders über die bunte Wolle, die Backzutaten und die Eierfarbe. Mein Vater bewahrte die Ruhe, zufrieden beobachtete er den Trubel und Jubel. Irgendwann würden schon noch seine Hausschuhe zum Vorschein kommen. So war es. Als letztes holte ich sie aus dem riesigen DDR-Koffer heraus.
„Hier, Papa, mit besten Grüßen von deiner geliebten Schwester.“
Vater nahm die Hausschuhe aus rotem Cord und der dicken, hellen Gummisohle in die Hand – und errötete. Selten hatte ich ihn so aufgeregt gesehen. Was war bloß mit ihm?
„Wieso schickt sie mir diese kommunistischen Schuhe? Hat sie keine anderen gefunden?“
Ich war sprachlos. Die Schuhe waren doch schön, woher kam dieser Zorn? Dann erinnerte
ich mich. Tante Olga hatte mir die Schuhe mit den Worten gegeben: „Es waren die einzigen in seiner Größe, ich musste sie nehmen, denn du fährst ja bald.“ Anscheinend hatte sie gewusst, dass die Hauschuhe meinem Vater nicht gefallen würden. Ihn versöhnten ihre Worte keineswegs. Allmählich wurde mir der Grund seines Unmuts bewusst. Mein Vater lehnte die rote Farbe ab, nein, er hasste sie. Das musste meine Tante gewusst haben. Ich ahnte es nicht mit meinen fünfundzwanzig Jahren. Mit keinem Sterbenswort, weder mit einer Geste noch einer Gemütsregung verriet mein Vater in all den Jahren wie verhasst ihm der rote Stern, die rote Fahne, die Farbe Rot in den Staatsymbolen der Sowjetunion waren. Erst jetzt stellte ich fest: in meinem Elternhaus fehlte die Farbe Rot. In der gesamten Wohnung gab es nichts Rotes, weder in den Gardinen noch in den Tischdecken, den Sesseln oder den Teppichen. Diese Farbe symbolisierte die Macht, die meinem Vater als reichen Bauern sein Hab und Gut genommen hatte, die ihm jahrzehntelang nach dem Leben trachtete, ihn ins Gefängnis steckte, in den Gulag verbannte, die ihm die Würde nahm und ihn in ständige Angst versetzte, unter der er sein Dasein erduldete. Nur in Gegenwart meiner Mutter nannte er sie öfter: Räuber-Regierung. Wie tief der Hass gegen die Sowjetregierung bei ihm sitzen musste, um eine Farbe zu hassen? Die roten Hausschuhe führten bei meinem Vater zum stärksten Gefühlsausbruch, den ich nie vergessen werde. Jahrzehntelang hatte er seinen Hass im tiefsten Innern verborgen. Es tat mir weh, ihn so leiden zu sehen.
Die roten Hausschuhe
von Lena Kelm
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- Autorin/Autor: Lena Kelm
- Prosa von Lena Kelm
- Prosakategorie und Thema: Biografien / Autobiografien
Kommentare
Wer was warum assoziiert -
Oft weiß man's kaum - es fasziniert ...
LG Axel
Dankeschön!
Lieben Gruß, Lena
Sehr gern gelesen. Alles Gute und
HG Olaf