26 – Lebenssplitter "Goldbonbon"

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von Heide Nöchel (noé)

Um nicht ganz durcheinander zu kommen in der Zeit, ist es wohl besser, ich erzähle zuerst einmal von früheren Lebensabschnitten weiter. Es gibt so viele Erzähl-Stränge, dass man sich ganz leicht verheddern könnte; einer bedingt "X" andere! Also vorläufig mal wieder zurück in meine Vorschul-Kinderzeit:

Zwei-Zimmer-Küche-Bad, das war die „Größe“ der Wohnung in der Eichendorffstraße. Dort wohnten wir zu dritt: Meine Mama, Oma Anni und ich. Alles sehr eng, aber es ging.

Und dann saß da plötzlich ein Mann neben meiner Mama auf dem Sofa und grinste mich breit an, als ich endlich aus der Küche ins Wohnzimmer geschickt wurde, um „guten Tag“ zu sagen.

Diese Szene werde ich mein Leben lang nicht vergessen, die hat sich mir eingebrannt. Und es war kein guter Start für meinen neuen Papa. Sein Verhalten an diesem Tag blieb mir Indikator für bestimmte Situationen im späteren Zusammenleben.

Ich wurde also – feingemacht - ins Wohnzimmer geschickt, um Händchen zu geben. Das tat ich auch, ich machte sogar noch einen kleinen Knicks. Der fremde Mann (eigentlich ja der erste bewusst erlebte in meinem von Frauen umlagerten Kinderleben, denn an meinen ersten Vater hatte ich keine bewusste Erinnerung, er war verstorben, als ich dreieinhalb Jahre alt war), grinste von einem Ohr zum anderen. Meine Mama saß neben ihm und grinste fast genauso breit. Heute weiß ich, dass Verlegenheit so aussieht.

Der fremde Mann gab mir im Sitzen seine Hand, dann griff er zu einem Bonbon, das neben der Bonbonschüssel auf dem Wohnzimmertisch lag, und hielt es mir hin. Das fand ich sehr nett von ihm und bedankte mich artig mit Knicks. Er lehnte sich zurück, machte eine Art Doppelkinn (konnte er gar nicht, dafür war er viel zu dünn) und zog sich ruckhaft am Hosenbund mit beiden Händen die Hose zurecht – einen Ruck nach rechts oben, einen nach links oben.

Inzwischen hatte ich das goldene Bonbon (nicht das aus der Werbung!) ausgepackt – und darin eingepackt lediglich weiteres zusammengeknülltes Bonbonpapier gefunden. Ich erinnere mich noch genau an den Stich kalter Enttäuschung, mitten ins Herz, kombiniert mit empfundener Blamage, als der Mann auf dem Sofa loswieherte vor Vergnügen über meine heruntergeklappte Kinnlade.

Ungläubig schaute ich von diesem Mann, der sich nicht mehr einkriegte vor Lachen, zu meiner Mama, die sanft lächelnd neben ihm saß, dann wieder auf das leere Bonbonpapier in meinen Händen und zur vollen Bonbonschale auf dem Tisch. Inzwischen war Oma Anni hereingekommen und hatte mich hinter sich her aus dieser peinlichen Situation wieder in die Küche gezogen.

Späterhin erkannte ich bevorstehenden „Betrug“ (von mir aus gesehen), „Veräppelung“ (von den Erwachsenen aus gesehen) an ihm so deutlich wie bei sonst niemandem daran, dass er ein „Doppelkinn“ machte und sich die Hose am Hosenbund ruckhaft mit beiden Händen nach oben zog, einen Ruck nach rechts oben, einen nach links oben.

Er hat nie begriffen, woran es lag, dass ich auf seine „Betrügereien“ nie mehr hereingefallen bin und entsprechende Situationen für meine späteren Geschwister stets – meist für sie rechtzeitig – im Vorfeld entlarvte.

Natürlich wurde ich dadurch zum „hochgeschätzten“ Spielverderber.

noé/2014

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