Gefährlicher Sommer (Teil 14; 1. Hälfte) - Page 2

Bild zeigt Annelie Kelch
von Annelie Kelch

Seiten

mir unauffällig zu. Er deutete auf ein Fernglas, das in seiner offenen Badetasche auf einem dunkelblauen Handtuch lag.
„Ein Feldstecher von der gediegensten Sorte“, flüsterte er.
Weiß der Himmel, wo er den aufgetrieben hat, dachte ich und musste vor Auf­regung mehrmals schlucken. Jetzt wurde es ernst. Ich glaubte fest daran, dass etwas Furchtbares geschehen würde, sobald ich vom Hochsitz aus durch das Fernglas in die Runde schaute, wusste aber gleichzeitig, dass mich nichts, aber auch gar nichts davon abbringen konnte. Mir war allerdings noch nicht klar, wie Hannes Konny und Kora unseren „Ausflug“ zum An­sitz erklären wollte. Oder sollte ich etwa doch alleine ...?
„Katja, wie geht es eigentlich deiner Freundin Stine?“, wollte Hannes plötzlich von mir wissen.
„Christine“, betonte ich, „geht es sehr gut. Sie schreibt, dass sie keine Schmerzen mehr hat und sich mit den Krücken prima fortbewegen kann. Ich wundere mich nur, dass du das noch nicht weißt, Hannes, wo du doch so gerne in fremder Leute Briefe herumschnüffelst.“
„Aber Katja, du bist doch keine Fremde für mich, eher eine Freundin“, säuselte Hannes. Anscheinend war er der Meinung, mit dieser Feststellung seine unangenehme Neugier gerechtfertigt zu haben. Über soviel Unver­schämteit konnte ich nur staunen.
„Wie bitte, Katja, der war in deinem Zimmer und hat in deiner Post herumge­schnüffelt?“, fragte Konny entsetzt.
Er schien völlig aufgelöst.
„Halt! Sieh nach vorn, Konny!“, warnte Kora ihn lauthals.
„Im Wald gibt es nämlich Bäume, lieber Cousin, falls dir das noch nicht aufgefallen sein sollte“, lachte Hannes schaden­froh zu Konny hinüber. Konny stieg vom Fahrrad, lehnte es an den Stamm einer Fichte, und ließ sich erschöpft in „Moos und Farn“ fallen.
„Fahrt ruhig schon vor. Ich habe momentan keine Lust, mit Typen wie diesem da den Weg fortzu­setzen“, sagte Konny und zeigte mit dem Finger auf Hannes.
„Empfindlich wie ein kleines Mädchen. Dann bleib doch hier sitzen, Mimose.“
Hannes fuhr weiter.
Ich stieg vom Fahrrad und setzte mich neben Konny. „Wie hältst du das den ganzen Tag aus?“, fragte ich.
„Eigentlich ist er ganz okay, aber manchmal ...“ Konny starrte niedergeschlagen auf den Waldboden.
„Ich hätte nicht davon anfangen sollen. Es war meine Schuld“, sagte ich.
„Unsinn, so weit kommt es noch, dass du ihn verteidigst. Seit seine Mutter sich ... äh, seit einem Jahr muss er sich überall einmischen und ist unausstehlich.“
Konny blickte mich erschrocken an. Ich tat so, als hätte ich den letzten Satz nicht mitbekommen und schaute zu Kora hinüber, die einige Meter entfernt in einem Gestrüpp mit wilden Himbeeren hockte und an­dächtig kaute.“
„Kommt her, die schmecken unheimlich süß“, schrie sie. „Und sind weich wie Samt.“
„Ja, bis du krank wirst und einen Bandwurm oder Schlimmeres bekommst“, rief Konny zurück. „Wer weiß, wer dort schon alles hinge­pinkelt hat: Füchse, Wild­schweine …“
„Maskenmänner“, ergänzte ich auto­matisch, obgleich ich eigentlich lachen wollte.
„Wie bitte?“, fragte Konny pikiert.
„Ein kleiner Scherz“, zog ich mich aus der Affäre.
„Ist doch wahr, Katja“, sagte Konny.
Kora hob ihr Fahrrad auf und kam langsam zu uns rüber.
„Oh, Gott“, stöhnte sie, „hoffentlich werde ich jetzt nicht tatsächlich krank. Mir ist bereits ganz komisch im Magen. Ich habe ziemlich viel von diesen Dingern ver­drückt.“
„Laß Gott aus dem Spiel, Kora. Wirst schon nicht gleich daran sterben“, sagte Konny. „Auf zum Kiesteich, Mädels, bevor mein verrückter Cousin dort irgendwas anstellt.“
***
Hannes lag, nur mit seiner hellblauen Badehose bekleidet, auf einer rotgrün karierten Decke und sonnte sich.
„Da seid ihr ja endlich!“, rief er. „Ich dachte schon, ein Dino hätte euch verspeist.“
„Außer dir war Gott sei Dank keiner im Lachauer Forst“, sagte Konny bissig. „Und meine Mutter hat dir heute Mittag ja wohl genug zum Fraß vorgesetzt“.
Hannes Lachen wirkte ansteckend, und der Unfriede zwischen uns löste sich auf wie das Waldmeister-Brausepulver im Plastik­becher, über welches Hannes Wasser aus einer Thermosflasche goss.
„Wald­meister ist total ungesund, fast gefährlich“, belehrte uns Konny.
„Was ist eigentlich aus dieser Kameliendame geworden, Katja?“, erkundigte sich Hannes.
„Lies das Buch doch selber. Opa leiht es dir gewiss gerne aus. Inhaltsanga­ben und Interpretationen sind erst wieder dran, wenn die Ferien vorbei sind“, sagte ich.
„Und mit welchem Buch teilst du momentan das Nachtlager, das dir unsere Gnädigste huldvoll gewährt?“, fragte Konny.
„‚Herz der Finsternis'“, gab ich bereitwillig Auskunft.
„Die Erzählung ist von Joseph Conrad, dem Verfasser von ‚Lord Jim'“, kam es wie aus der Pistole aus Konnys Mund geschossen.
„Genau so ist es, Konny“, sagte ich und wartete auf einen boshaf­ten Kommentar von Hannes. Aber er hielt sich zurück. Ich sah es hinter seiner Stirn arbeiten: Das Schweigen kostete ihn eine Menge Kraft.
„Auf in den See!“, rief Kora. Wer weiß, wie lange das Wetter noch so herrlich ist.“
„Im Nu hatte sie ihre Nietenhose abgestreift und den Pulli über den Kopf gezogen.“
„Du liebe Güte“, schrie Hannes mit einem Mal. „Ich habe das Fernglas verloren. Tante Selma macht Hackfleisch aus mir, wenn ich ohne das gute Stück nach Hause komme. Es muß mir aus der Tasche gefallen sein. Als wir an dem alten Hochsitz vorbeikamen, hatte ich es jedenfalls noch. Das weiß ich genau!“ Er warf einen bedeutungsvollen Blick in meine Rich­tung und zwinkerte mir unmerklich zu.
„Du bist vielleicht schusselig, Hannes“, schimpfte Konny, „das gute Fernglas zu verlieren.“
„Beruhige dich, Konny“, sagte Hannes. „Ich werde es wiederfinden, ganz bestimmt. Hilfst du mir beim Suchen, Katja?“
„Auch das noch. Was hat Katja denn damit zu tun?“, regte sich Konny auf.
„Ach, lass doch, Konny. Ich helfe Hannes gerne beim Suchen. Um so eher sind wir alle wieder beisammen“, beruhigte ich ihn.

Wir machten uns davon, Hannes und ich, setz­ten Begräbnis­mienen auf und bohrten unsere Augen tief betrübt in das von der sengenden Sonne verdorr­te, farblose Gras – bis wir den Wald er­reicht hatten. Das Lachen hatte die ganze Zeit hinter meinen Kau­muskeln auf der Lauer gelegen und sprudelte hervor, unbändig und laut, sobald die ersten Fichten hinter uns lagen. Es schüttete sich aus wie der Himmel den Regen an einem wolkenverhangenem Tag, traf mit voller Wucht auf die knorrigen alten Stämme, und es kam mir vor, als schwankten die Bäume um mich herum, als jubelte der Wald vor lauter Lebenslust: Hannes hat mich nicht im Stich ge­lassen!
Hannes stimmte ein, schallend und aus vollem Hals. Wir wussten nicht, dass uns das Lachen bald vergehen würde.
„Mensch, Hannes“, sagte ich endlich und wisch­te mir die Tränen von den Wangen. „Das war eine prima Idee. Du hast das alles so gut inszeniert, dass selbst ich darauf reingefallen bin. Wo hast du es versteckt?“
„Neben dem Ansitz natürlich. Wo denn sonst? Woanders kann man sich ja vor lauter Bäumen keinen Platz merken“, sagte er. Wir liefen Hand in Hand zur Jagdkanzel, und ich war mit einem Mal so froh und glücklich mit Hannes, dass ich kein einziges Mal an Harry dachte.
Vor der Jagdkanzel umarmte mich Hannes, gab mir einen zarten Kuss auf den Mund und lächelte mich charmant an. Mir wurde ganz heiß ums klopfende Herz. Ich hatte mich verliebt. In Hannes, diesen kleinen Schurken. Wer hätte das gedacht? Du, liebe Christine? Sag jetzt bitte nicht: Klar wie Kloßbrühe, Katja.
Meine Fantasie ging wieder mal mit mir durch, und ich fühlte mich mit einem Mal wie Polly Peachum aus der Dreigroschenoper. Macheath, der Ganove, mein Hannes, bog den Farn neben der Jagdkanzel aus­einander und zog freudestrahlend das Fernglas hervor.
„Noch nicht mal der böse Maskenmann hat es gefunden“, triumphierte er. „Jetzt kannst du endlich hinauf, Katja! Mit einem Fernglas! Genau, wie du es wolltest. Zufrie­den?“
„Unbedingt“, sagte ich. „Kommst du mit? Dort oben ist Platz für Zwei.“
„Nein“, sagte Hannes. „Ich bin wahnsinnig müde. Habe letzte Nacht kaum geschlafen.“
„Wes­halb nicht?“, fragte ich. „Musstest du Kora und Konny vor einem Ungeheuer beschützen?“
„Du wirst es nicht glauben, Katja, aber ich habe in Tante Selmas Bibliothek das ‚Herz der Finsternis' und ‚Lord Jim' gefunden. Bis drei Uhr morgens habe ich gelesen. Konny und Kora wissen nichts davon. Es braucht auch sonst niemand Wind davon bekommen. Ich habe die Bücher heute Morgen wieder zu­rückgestellt.“ Er gähnte laut.
„Mensch, Hannes!“, rief ich überrascht. „Das gibt 's doch nicht! Wie gefallen sie dir?“
„Gut, Katja", sagte Hannes eif­rig. „Wirklich sehr gut, aber ein gesunder Nachtschlaf ist auch nicht zu verachten.“
Ich musste wider Willen lachen. Das war typisch Hannes.
„Pass auf, dass du nicht ausrutscht. Die Sprossen sind voller Moos und sicher ziemlich glatt. Und weck mich, wenn du was Verdächtiges siehst“, gab Hannes mir mit schlaftrunkender Stimme mit auf die Leiter. Ich erklomm mit zitternden Beinen den An­sitz. Die Sprossen waren nicht nur glatt, sondern auch morsch und wackelig. Bang ums Herz und in Gedanken an Knut, dachte ich: Vielleicht bin ich auch gleich tot, und einen Moment lang kam ich mir tatsächlich vor, als sei ich auf dem Weg zu meiner eigenen Hinrichtung.
Unsinn, Katja. Was sollen diese Hirngespinste! Mir war mal wieder, als hörte ich Lenis energische Stimme. Sie trieb mich weiter und mache mir Mut. Die letzten vermoderten Hölzer kamen mir plötzlich wie ein Kinderspiel vor, obgleich sie mich hoch hinaustransportierten. Und dann saß ich endlich oben. Unzählige Mücken tanzten vor meinen Augen.

Ich zögerte ein paar Sekunden, ehe ich mir das Fern­glas vor die Augen hielt, hin­durchblickte und schließlich in die Runde schwenkte. Die ausgebleichten, splittri­gen Bohlen unter mir seufzten und ächzten. Aber ich war noch am Leben – und auf dem Hochsitz. Mein hungriger Blick erspähte nichts weiter als Wald: rauschende Tannen und Fichten, ein Dickicht aus Eichen, Buchen und Lärchen, undurchdringliches Buschwerk und schier endlose Lichtungen. Hin und wieder sprang Wild durch das Gehölz: Füchse und Rehe; ein paar Hirsche, die noch im Bast standen. Auf einer der Lichtungen äste eine Herde Rotwild, und auf einer Schneise zwischen dunklen Tannen stand eine schlanke graue Ricke mit ihren beiden Kitzen. Die Tiere hoben von Zeit zu Zeit die Köpfe und schauten ängstlich und unentschlossen in der Gegend umher.
Auch schon mitbekommen, dass der Lachauer Forst ein äußerst gefährliches Pflaster ist?, hätte ich gerne gefragt. Enttäuscht ließ ich das Fernglas sinken. Ich hätte nie und nimmer geglaubt, dass es so schwierig war, etwas anderes als Bäume, Büsche und Lichtungen auszumachen. Eine Weile döste ich vor mich hin und dachte an meine neue Liebe, die unten neben dem Ansitz schlummerte.
Wie hatte es nur geschehen können, dass ich mich in Hannes verliebte? Es war doch erst wenige Tage her, dass ich wie auf Wolken durch die Straßen unserer kleinen Stadt geschwebt war, weil Harry mich um meine Ferienanschrift gebeten hatte. Und erst sein Brief! Wie glück­lich war ich gewesen, als ich ihn gelesen hatte! Ich versank ins Grübeln.
„Na, Katja? Steht der Wald noch? Oder hat der böse Maskenmann alle Bäume erschos­sen?“, holte mich Hannes in die Gegenwart zurück.
„Damit spaßt man nicht, Hannes. Du weißt doch selbst, wie gefährlich dieser Typ ist“, sagte ich und spähte mit ernstem Gesicht zu ihm hinunter.
„Hast ja Recht“, sagte Hannes. „Ich komme jetzt auch nach oben. Hoffentlich fällt das wackelige Ding nicht um. Halt dich gut fest, Katja.“
Mir wurde mulmig zumute; es hatte den Anschein, als schwebte der verrottete Ansitz hin und her, als Hannes die Leiter emporstieg. Schnell hob ich das Fernglas an die Au­gen, starrte wie gebannt hindurch, um ihm den neusten Stand mitzu­teilen und wäre, wenn Hannes mich nicht festgehalten hätte, vor lauter Schreck beinahe hinunter auf den Waldboden gefallen: Auf einer der Lich­tungen, direkt vor meinen Augen, parkte der dunkelblaue BMW von Axel Krö­ger.
„Was hat dein Vater um diese Zeit im Wald zu tun, Hannes?“, fragte ich entgeistert.
„Mein Vater? Wieso?“ Hannes riss mir das Fernglas aus der Hand.
„Tatsächlich!“, rief er aufgeregt. „Wie kommt sein Auto in diesen verfluchten Wald?“
„Mit Sicherheit ist es nicht zu Fuß gegangen“, entfuhr es mir. Hannes sah mich traurig an.
„Tut mir leid, Hannes. Ist mir so rausgerutscht. Ich wollte eigentlich etwas ganz anderes sagen“, entschuldigte ich mich.
„Was denn?“, fuhr Hannes mich arg­wöhnisch an. „Dass mein Vater doch der Mörder vom alten Knut ist?“
Ich schüttelte den Kopf und schwieg. Hannes hob erneut das Fernglas und schaute hindurch.
Zwei Minuten später packte er meinen Arm und drückte ihn ganz fest, als habe er da draußen den Teufel vor Augen.
„Autsch, das tut weh“, zischte ich. – Ich spürte fast wie am eigenen Leib, wie unruhig er geworden war.
„Was ist los, Hannes?“, fragte ich ängstlich. Ich wollte schon wegen Hannes nicht mehr, dass Axel Kröger weiterhin zum Kreis der Verdächtigen zählte.
„Hier, Katja, schau selber“, sagte Hannes mit tonloser Stimme und schob mir Tante Selmas Fern­glas vors Gesicht.

Seiten

Prosa in Kategorie: 
Thema / Klassifikation: