Dieser Regen …
Das Metall der Fensterbank ließ das Klopfen nachfedern, manchmal unterbrach unerwartet eine Synkope die einlullende Monotonie, dann beeilte sich sein Herz, diesen unterbrochenen Rhythmus nachzuholen.
In der ausgetretenen Stelle vor der Katentür hatte sich der Regen immer gesammelt und er hatte auf der Stufe gesessen und die Kringel bestaunt, die in ihrer Mitte einen Tropfen wieder hochschickten, als könnten sie ihn nicht gebrauchen, als wäre er zu viel. Wie spannend das war! Die Mutter konnte das nicht verstehen und hatte ihn geschimpft, wenn sie ihn wieder dabei entdeckte, wie er die Zeit vertrödelte, wie sie es nannte …
Einmal war er mit dem Georg auf den See hinausgerudert zum Angeln. „Würmerbaden“ hatte Georg das genannt. Da war ein Gewitter gekommen, ganz plötzlich, man hatte es nicht ahnen können vorher. So eine schwarz-lila Wolkenrolle kullerte über sie hinweg und es goss in Strömen und blitzte und donnerte zur selben Zeit, man konnte nicht bis eins zählen dazwischen. Da war dem Georg anders geworden und er hatte sich doch sehr beeilt, wieder an Land zu rudern. Aber er hatte dem Georg nicht geholfen dabei, so fasziniert war er von dem See und dem Regen und wie das Seewasser den Regen wieder hochgespuckt hatte, dass es dicke, platzende Blasen gab …
Im Fluss hatten sie Krebse gefangen. Sie brauchten dazu nichts als ihre nackten Zehen. Mit ihren kurzen Hosen waren sie in das Wasser gestiegen, das eigentlich nur ein Bach war und ziemlich flach, aber im Dorf nannten sie den Bach Fluss. Die Krebse warteten nur auf die nackten Jungenzehen und kniffen mit ihren Zangen zu. Und das wurde ihr Verderben. Wer die meisten fangen konnte, war der Sieger, denn die meisten fangen hieß, dass man viel aushalten konnte – die Krebszangen kniffen ganz schön zu. Und wenn er abends mit einem Eimer voller Krebse nach Hause kam, war es schön zu sehen, wie die Mutter sich freute und gar nichts mehr dagegen hatte, dass er seine Zeit vertrödelte. Und lecker waren die Viecher auch noch, dafür konnte man schon mal ins Wasser steigen mit nackten Füßen …
Dieser Regen war ruhig und stetig – bis auf die Synkopen. Da! Wieder eine! Zwei Doppelklopfer hintereinander.
Den Kaventsmann hatte er nicht kommen sehen. Instinktiv hatte er sich an die Reling geklammert, aber ohne Sicherungsleine hätte es ihn von Bord gespült. Der Sturm war heftig, einer der gewaltigsten, den er erlebt hatte. Trotz Ölzeug war er nass bis auf die Knochen, und das schon vor diesem Brecher. Aber auf hoher See kann man nicht umkehren, da muss man dann durch. Und das war ja auch das Abenteuer, besonders im Nachhinein, wenn man lebend da wieder rausgekommen war und trocken inzwischen, der Sturm sich gelegt hatte und die See nur noch ein bisschen kabbelig war. Dann sah wieder alles anders aus. Da wusste er dann wieder, warum er das Wasser so liebte, dass er sogar an die Küste gezogen war …
… und dort seine Lise getroffen hatte. Wie könnte es anders sein: Im Regen. Patschnass war sie geworden in diesem unerwarteten Aprilguss. Wie ein nasses Küken hatte sie ausgesehen, als sie sich in seine Arme warf! So hatten sie später immer lachend erzählt und sich dabei verschwörerisch zugezwinkert. Beide hatten sie denselben Hauseingang angesteuert, als letzte Rettung, und er, mit seinen langen Beinen, war einen Schritt schneller gewesen als sie. Und so standen sie, eng aneinander gepresst, dampfend unter demselben Vorsprung und er hatte nie erfahren, ob es seine Nähe war, die sie zittern ließ, oder das durchnässte Fähnchen von Sommerkleid, das an ihrer Traumfigur alles nachzeichnete, wozu man keine Phantasie mehr brauchte.
Der Regen spielte eine Melodie, die in seinem Kopf fröhliche Runden drehte. Ein Rhythmus, den er kannte … woher kannte? Ein Bild tauchte vor seinen Augen auf und jetzt hörte er es wieder:
Peters Taufe – es war ein Sieg gewesen. Peter war zu früh auf die Welt gekommen und sie hatten lange bangen müssen um ihr einziges Kind. Aber die Ärzte hatten es geschafft und als er getauft wurde, war er nicht mehr klein wie eine Feldmaus. Der Pfarrer hatte gesagt, dass noch nie ein Kind bei der Taufe gelächelt hätte, jedenfalls nicht, solange er schon Pfarrer war. Ganz sicher sei der Kleine vom Himmel geschickt worden. Als wenn sie das nicht selber gewusst hätten. Und draußen spielte der Regen den Hochzeitsmarsch, als hätte er lange dafür geübt.
Und dann der Regen an Lises Grab. Die ganze Zeit war schönes Wetter gewesen, zu heiß fast. Aber bei Lises Beerdigung, da musste es natürlich regnen. Sogar der Pfarrer hatte sich beeilt mit seiner Rede. Unablässig kam das Wasser vom Himmel. Und er musste immer nur daran denken, dass man alles, was man einpflanzt, gut wässern muss, damit es anwächst und gedeihen kann. Als wenn Lise dort anwachsen solle. Die lehmige Erde glänzte speckig. Und der Regen fiel und fiel und schleuderte diesmal platschend kleine Erdfontänchen aus den Pfützen, in denen sie bald alle standen, als der Pfarrer noch von Erde und Staub sprach.
Das Tropfen war weniger geworden, zögerlicher. Er wartete regelrecht auf die Unregelmäßigkeit, die die Metallmembran der Fensterbank zum Komponieren brachte. Er sehnte sich nach dem harmonischen Gleichklang zurück und drehte das Gesicht dem Fenster zu.
Am Küchenfenster hatte er gestanden. Und der Regen zog Spuren entlang der hohen Scheiben. Die Rinnsale flossen nebeneinander her, unterschiedlich schnell, vereinigten sich zu breiteren Bahnen, perlten ab, teilten sich an Unebenheiten, nur um dann doch wieder zusammenzufließen.
Sie hatten Peter nicht mehr lebend unter dem Auto hervorgezogen. Er war sofort tot gewesen. Es war ein Trost, dass er wohl nur den Schreck gespürt hatte, aber keine Zeit mehr gehabt hatte, Schmerzen zu empfinden. So hatte der Arzt es gesagt. Direkt unter dem Küchenfenster. Und immer, wenn es regnete, stand er an diesem Fenster und sah durch den Regen seinen Sohn. Dieses Bild hatte er seitdem im Kopf. Der Regen rann und er sah Peters Beine unter dem Auto.
Peter … und Lise … der Regen …
Als die Schwester das Zimmer betrat, sah sie sofort, dass er aus diesem Schlaf nicht mehr erwachen würde. So friedlich, wie er da lag, das Gesicht mit den jetzt blicklosen Augen dem Fenster zugewandt ...
Sie öffnete es einen Spalt, damit seine Seele in aller Ruhe fortfliegen konnte.
Die Stille breitete sich wie ein Seufzen.
noé/2016
Kommentare
Ganz starker Text, der alles hat -
Das Leben findet darin statt...
LG Axel
Fesselnd und eindringlich . . . Wehmut im schönsten Gewand.
LG Ralf
Bin fasziniert. Der Text ist ein Meisterwerk.
Ja, schaurig schön ist er...Kompliment!