Wieder was gelernt oder Mein Sprachgott und ich

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von Alf Glocker

Heute Morgen kam mein Sprachgott zu mir und sagte: „Hast du mich denn schon einmal richtig angesehen? – betrachtet?“ Ich stutzte ein paarmal eifrig, dann erhoffte ich, von ihm selbst eine Antwort auf seine seltsame Frage zu bekommen. „Ich sehe“, meinte er auch prompt, „daß du zu dumm bist." Ich nickte.

„Sieh doch“, meinte er, „das Denken würde uns eigentlich genügen. Alles sonstige sind nur Kunstformen. Könnten wir unsere Gedanken lesen, dann wüssten wir nicht nur, was der andere meint, sondern gleichzeitig auch, wie er ist." Ich staunte zuerst, dann nickte ich.

„Du verstehst mich leider gar nicht, Dummerchen“, führte der Sprachgott weiter aus, „wir würden augenblicklich die Welt zerstören – oder glaubst du, sie hätte Bestand, wenn wir erkennen müssten, daß wir nur lautsprechen, um verbal unsere Vorherrschaft zu demonstrieren? Jeder benutzt seine Eloquenz (seine Wortgewalt) doch nur, um entweder zu lügen oder zu dichten." Wiederum nickte ich.

„Stell dir nur einmal vor, wie schnell es zu keinem Liebesakt mehr käme, wenn Frauen in den ‚Genuss‘ einer Sprache kämen, die gezwungen ist, Gedanken klar und deutlich auszudrücken." Ich schüttelte den Kopf. Das wollte ich nicht wahrhaben! Warum sollte ich an dieser Stelle nicken?

„Du zweifelst??“, schrie mich der Sprachgott an. „Was sich zwischen Menschen verschiedenen Geschlechts (oder überhaupt zwischen Mensch geschlechtlich) abspielt, ist doch schon generell absurd! Nun stell dir bloß mal vor, es gäbe zwei gleichzeitig ablaufende Spulen der sogenannten
‚Zwischenmenschlichen Kommunikation‘ – wenn wir zum Beispiel gesprochene Worte UND Gedanken gleichzeitig hören könnten – ihrer Unterschiedlichkeit wegen aber nicht verstünden."

„So viel verlange ich ja gar nicht“, prostierte ich empört. Verzweifelt suchte ich nach Hintertürchen und Ausflüchten … fand aber nichts dergleichen. Ich zog meine linke Augenbraue nach oben … Dann hörte ich mich „faszinierend“ sagen. Was ich dabei dachte, verschweige ich lieber.

Der Sprachgott war jedoch nicht mehr zu bremsen. „Stell dir doch bitte einmal eine Szene vor“, kreischte er, „ein Mädchen und ein junger Mann sitzen auf einer Parkbank. Die junge Frau ist gerade blass geworden, denn sie hörte, aus dem Kopf des jungen Mannes: ‚Die muss ich unbedingt f…, ihre Titten sind traumhaft und der Arsch hat‘s mir auch angetan. Wenn ich Glück habe, ist sie einfach genug gestrickt, sich überreden zu lassen.‘ Seine Worte aber cyrannisierte, verbergeracte er geschickt:
‚Ich muss dir jetzt etwas gesteh’n,
ich hab noch nie 'ne Frau geseh’n,
die so schön ist wie jetzt du
und so klug auch noch dazu.‘
So einen ausgemachten, aber gleichzeitig auch himmelschreienden Blödsinn hatte ich mein ganzes Leben noch nicht gehört, dachte ich.

Dann – ich weiß nicht warum, aber es ist so – musste ich einfach lachen.
Mir fiel ein „und beim letzten Verse stech‘ ich." Aber, worüber könnte ich mich jetzt lustig machen?! Die Lage war ernst und mein Gegenüber war mir intellektuell haushoch überlegen.‚

Der Sprachgott schien aufs Äußerste erzürnt … „Das Mädchen ist übrigens auch nicht viel besser, denn der junge Mann hörte ‚der muss sich schon noch eine ganze Weile sehr viel Mühe geben, bis ich weiß, ob ich ihn für eine Fortpflanzungsgemeinschaft einspannen kann. Vielleicht kriegt er heute noch einen Kuss – wenn er keinen Fehler macht – mehr aber nicht.‘ Und wäre sie nicht grade blass geworden, dann hätte sie raffiniert hintergründig gelächelt. Das ist ja auch eine Art Sprache."

Diesmal nickte ich wieder und der Sprachgott fuhr übernüchtern fort: „Sie sagt nichts und ist trotzdem weise, denn ihre Absicht muss, ganz wie beim Mann, ein Geheimnis bleiben … ein offenes versteht sich. Nichts davon darf direkt ausgesprochen werden. Das nennt man die ‚angewandte Moral‘. Denn sprächen die beiden gleich unverblümt aus was sie denken, oder wozu die Natur sie veranlasst hat zu denken, dann würden sie schreiend auseinander laufen."

Diesmal beeilte ich mich sogar zu nicken, denn so langsam bekam ich Angst vor mir und der Welt. Das durfte nicht sein! Aber das Scheusal kannte kein Erbarmen. „In unserem Fall – sagen wir einmal, es handle sich hier um besonders sensible Individuen – geraten beide nur ganz plötzlich ins Wachkoma, aus dem sie auch nicht mehr geweckt werden wollen." Mein Herz schlug mir bis zum Hals …

Ich stöhnte „um Sprach-Gottes-Willen!“ und frage „was geschieht denn mit der übrigen, nicht verliebten Welt?“

„Da schieben sich logischerweise die größten Lügner in den besten Vordergrund. Wer sprachgewandt genug ist, dominiert – wer beides, Lügen und Eloquenz miteinander verbinden kann, herrscht! Denn in den Köpfen der Menschen verbirgt sich ein geradezu babylonisches Chaos.

Keiner würde den anderen verstehen (wollen), wüsste er, was der denkt. Sie sind einfach zu verschieden! Mentalitäten, Kulturkreise = Entwicklungswege, Charaktereigenschaften und die DNS unterscheiden sich so extrem voneinander, daß ohne den Wunsch nach Sex, Reichtum und Vorherrschaft, durch Ausbeutung und Unterdrückung, gar kein Miteinander möglich wäre. Jeder würde jeden verachten, fürchten, ablehnen, hätte der nicht etwas zu bieten, was ein anderer haben möchte."

Jetzt stellte ich mich mal ganz dumm und ich guckte auch so … Das brachte meinen Sprachgott zum Lachen. Wie mich das freute …

„Na, Arbeitskraft zum Beispiel“, erklärt er mir, „Brüste, Eierstöcke, Aussehen, Ansehen, sexuelle oder finanzielle Attraktivität eben."

Endlich tat ich so als verstünde ich’s …
„Und was ist dann mit dem Schnalzen?", fragte ich.

„Schnalzen?“, erwiderte der Sprachgott.

„Schnalzen“, sagte ich, „oder auch“ – ich machte es ihm jetzt absichtlich leicht „Lallen“. „Krächzen“, fügte ich noch hinzu.

Der Sprachgott wurde ein bisschen durchsichtig. Er schüttelte sich …

„Hast du schon mal einen Ur-Schweizer krächzen hören?“, führte ich weiter aus. „Krächzt der auch in Gedanken? Oder wie ist es mit dem lieblichen Schnalzgesang der Buschleute in Afrika? Sitzen in deren Sprachzentren kleine Schnalz-Grillen? Was weißt oder denkst du über Menschen, deren Vokabular das rollende R nicht kennt, die es nur lallend wiedergeben können, oder über welche, die ch anstatt j sagen?“

Der Sprachgott hatte inzwischen angefangen zu rotieren. Seine Rotationsgeschwindigkeit erreichte in kürzester Zeit ihre höchstmögliche Umdrehungszahl, weshalb er auch stante pede explodierte. Er zerfetzte sich einfach in der Luft! An der Stelle, wo er gerade noch so schön salbungsvoll stand, war nur noch eine Rauchwolke zu sehen.

Ich aber dachte mir, so laut, daß ich es sogar akustisch wahrnehmen konnte: „Was es doch nicht alles für Deppen gibt" – fügte aber dann brav hinzu: „Sieh mal einer an, wieder was dazugelernt!“

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