Zwillingssaiten - Page 3

Bild von Amalia Goldbach
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Ahnung, wie nah er der Wahrheit gekommen war. Sie hatte ihm verboten mit zukommen. Es war das erste Mal seit sie sich kannten, dass Kerem nicht seine Worte über die von Emmi legte und sie am Ende einvernehmlich machten, was er für richtig hielt. Sie hatte Jonas angerufen und ihn um Erlaubnis gebeten, ins Krankenhaus kommen zu dürfen. Erst danach war sie aufgebrochen. Zwei Wochen hatte Kerem nichts von ihr gehört, dann stand sie vor der Tür, packte ihren Koffer aus und sagte nichts. Er hatte sie in den Arm genommen und gefragt „Was ist geschehen?“. „Nichts. Es hat nichts mit uns zu tun.“ Damit hatte sie ihn stehen lassen und war in den Alltag zurückgekehrt. Sie tat all die Dinge, die sie auch vorher getan hatte mit einer so präzisen Sorgfalt, dass es selbst für Kerem nichts zu sagen und nichts zu fragen gab. Es war als müsste sie jeden Handgriff ganz bewusst und sichtbar beenden. Das Leben eine Aneinanderreihung von kurzen Sätzen. Alles stockte. Selbst ihre Bewegungen bestanden aus kontrollierten kleinen Sequenzen. Es war eine fremde Emmi zurückgekommen. Nicht die Emmi, mit der er seit vier Jahren in dieser Altbauwohnung Zukunftspläne schmiedete, die keine Zukunft fanden, weil immer irgendetwas dazwischen kam, was gut überlegt sein wollte. Wo sollte Kerems Vater nach seinem Schlaganfall bleiben? War es da nicht wichtig, dieses große Haus in der Nähe zu behalten und nicht ins Ausland zu gehen, damit sie sich kümmern konnten? Was war, wenn sie plötzlich doch noch Kinder wollten? Was, wenn Emmi lieber Reiseberichte schreiben als gemeinsam mit ihm in der Kanzlei seines Vaters arbeiten wollte. Neben all den Variablen war Kerem die einzig, unumstößliche Konstante. Neben Kerem war Emmi in Sicherheit. Unvollständig, aber in Sicherheit.

Du hättest es sofort bemerkt und es mir nicht durchgehen lassen. Nicht den kleinsten versteckten Zipfel hast du mir durchgehen lassen. Du hättest genau hingehört und verstanden. „Wenn wir wieder nach Hause kommen, wird alles wieder normal sein.“ Du hättest gefragt, wovon dieses „wenn“ abhängt und was passiert, wenn es in den Spalt zwischen gestern und morgen fällt und den schmalen Streifen Gegenwart mitreißt. Du hättest mich durchschaut. Nichts sollte jemals in unserem Leben normal sein. Was ist schon normal? Wir haben damals die Frage in unserem Zimmer gegen die Wand geschleudert und zugesehen, wie sie in tausend wilde Ideen zersplitterte. Normal. Der Abdruck eines Alltags in unseren Seelen, maskiert bis zur Unkenntlichkeit. Wir haben oft Masken getragen, aus Angst dem anderen etwas zu zeigen, was uns voneinander trennt. Am Ende brauchten wir sie nicht mehr. Als ich das Zimmer betrat, haben wir es beide gewusst. Vielleicht war dies der ehrlichste Moment seit unserer Kindheit. Jedes „Ich“ mit einem Teil vom anderen. Was ich in diesem Moment nicht erkannte, war, dass du dich schon entschieden hattest, ohne mich weiter zu gehen. Du lagst da in diesem nackten Zimmer, in dem es nach Desinfektionsmittel und Krankheit roch. Sie hatten dich direkt aus dem Aufwachraum hochgebracht. Deswegen das grüne OP-Hemd, das mich ganz traurig machte, weil ich dich darin erst nicht fand. Nach vier Jahren war dies unsere erste Begegnung. Damals war ich es gewesen, die keine Worte hatte. Ich hatte gedacht, wenn wir uns nicht mehr sehen, ich einfach verschwinde, dann würde sich dieser Raum in mir mit neuen Dingen füllen. Dann wäre da irgendwann eine andere Melodie. Stattdessen wurde es immer stiller in mir. Kerem vermisste den Ton der Zwillingssaite nicht. Er brachte mich in Sicherheit. So unvollständig, wie ich war. Ich stand da, so selbstverständlich und sicher, als hätte es die vergangenen vier Jahre ohne dich nicht gegeben. Ohne Erwartung und ohne Absicht war ich hier, weil ich dich niemals aufgegeben hatte. Jonas hatte es längst verstanden und mir aus diesem Grund erlaubt, hier zu sein. In diesem Moment, der eigentlich ihm gehörte. Nach all den Jahren und all dem Kämpfen, diesen Teil von mir los zu werden, war dir in dieser Minute die Zwillingsseite nicht zu viel. Du warst ohne etwas zu sagen, in eine andere Stadt gezogen. Selten, wenn ich es nicht mehr aushielt, habe ich dich umständlich per Post gefragt, wie es dir geht. Und niemals eine Antwort bekommen. Als sie mir erzählten, dass du mit Jonas zusammen wohnst, hörte ich damit auf und blieb was ich war, ein halber Punkt in meinem und ein halber Punkt in deinem Leben.

Am nächsten Morgen hatte Kerem einen Surflehrer samt Brett und Ausrüstung gebucht und freute sich darauf nach langer Zeit, mal wieder Wind und Wellen zu besiegen. Er freute sich auf einen richtigen Urlaubstag. Seitdem er wusste, dass alles wieder wie früher sein würde, konnten diese Tage am Meer auch ein normaler Urlaub wie früher werden. Er würde in Strandnähe bleiben. Ganz ohne Risiko. Zuhause warteten verschobene Termine, dringende Angelegenheiten und eine große Familie. Emmi wollte diesen Tag alleine verbringen und in ein altes Fischerdorf fahren. Es war das Heimatdorf des Hotelbesitzers. Sein Vater hatte angeboten sie dorthin zu bringen, um ihr die schönste Bucht der ganzen Insel zu zeigen. Als sie sich auf den Weg machten, fühlte sich Emmi beinahe unbeschwert und leicht. Ein kleines Körnchen Glück begann in ihr zu wachsen. Der alte Mann sah sie an. „Sie sind schön.“ Er lächelte und hielt ihrem Blick stand. „Nein, Sie machen mich schön, weil sie mir direkt mit ihrem Herzen in die Augen sehen und bereit sind, wirklich alles zu erfahren.“ Die Fahrt dauerte zwei Stunden, in denen sie kein Wort mehr miteinander gewechselt hatten. Erst als stumme Tränen über ihr Gesicht liefen, lenkte er den Wagen in eine kleine Pannenbucht auf der schmalen Serpentinenstraße Richtung Burmini und stellte den Motor aus. Er legte seine rechte Hand an ihre Wange und blickte weiter geradeaus, so als müsste er immer noch den Wagen sicher die kurvenreiche Straße entlang steuern. Eine große alte Hand mit harter, rissiger Haut. Eine kräftige Hand, die es gewohnt war, viele schwere Dinge zu tragen und woanders hinzubringen. Eine Hand, die viel erlebt hatte und die das Leben niemals wegschleudern würde. Emmi spürte den rauen Druck dieser Hand an

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