Zwillingssaiten - Page 2

Bild von Amalia Goldbach
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Seite war man kompromisslos in Sicherheit. Unvollständig, aber in Sicherheit.

Wir hätten mit unseren Zehen Bilder in den Sand gemalt und am Ende dazu eine Geschichte erfunden. Wenn du hier wärst, wäre da diese Melodie in mir, die ich seit du fort bist, nicht mehr hören kann. Wir hätten mit den Farben dieser Insel unsere Seelen angemalt und dem Meer zugehört, wenn es von den Träumen der Delphine erzählt. Ich muss aufhören, dich überall mitzudenken. Wie soll ich vollständig werden, wenn der andere Teil von mir in dir ist? Du würdest nicht neben mir stehen und mich auch nicht suchen. Genau so wäre es vollkommen. Wenn ich dir zu nahe komme, verschwindet dieser Teil von mir, den du für mich behütest. Aber wir beide kennen den richtigen Abstand ganz genau. Kein Maßband der Gefühle, keine leeren Worte und vor allem keine Versprechen mit der Absicht, den anderen zu besiegen. Es ist was es ist, ungewollt und doch nicht zu ändern. Wenn du hier wärst, würde ich das alles nicht denken. Dann würdest du meine Hand nehmen und doch nicht wissen, was du damit sollst. Aber du bist nicht hier und wirst auch nie mehr hier sein.

Kerem war mit seiner Wahl zufrieden. Ein kleines Restaurant direkt am Strand mit Blick auf das Meer. Ein Zufall, keine Absicht. Die Absicht hatte darin bestanden, so schnell wie möglich einen freien Tisch zu bekommen und nicht allzu lange auf das Essen warten zu müssen. Der Plan hatte funktioniert und nach dem zweiten Glas Wein war klar, dass Emmi sie zum Hotel zurück fahren würde. Am Nebentisch saßen drei Italiener, die keine Ahnung hatten, dass Kerem ihre Sprache perfekt beherrschte. Sie schielten auf Emmis lange blonden Locken, die zum Sprung bereit auf ihrer braunen Haut auf eine Bewegung des Kopfes warteten. Sie sahen ihr sehr direkt in die blauen Augen. Neugierig, Aufmerksamkeit suchend, wollten sie gerne für Emmi interessant sein. Heute kam sie damit zurecht, ohne sich verstellen zu müssen. Sie ignorierte die drei, nach dem sie kurz hinüber gesehen und festgestellt hatte, dass die in Wallung geratenen Hormone hübsch verpackt waren. Es amüsierte sie. Und Kerem war klug genug, nicht zu zeigen, dass es ihm gefiel. Emmi war nicht im herkömmlichen Sinne schön. Eher klein als groß, ihren Beinen fehlten fünf Zentimeter, um als wohlgeformt durchzugehen. Die langen, dicken Locken überforderten ihre zierliche Gestalt, weshalb sie ihre Haare meistens in einer Frisur versteckte. Ihre Augen standen ein bisschen zu weit auseinander und ihre Nasenflügel waren zu breit. Doch das Blau ihrer Augen und ihr Mund lenkten von diesen kleinen Unebenheiten ab. Wenn sie lachte, dann veränderte sich die Welt. Und wenn sie einen Raum betrat, wussten die Menschen mit einem Mal, warum sie dort waren. Emmi konnte Menschen hervor holen, ohne dass sie es bemerkten. Es war ihre ausschließliche, fast verzehrende Aufmerksamkeit, mit der sie Räume öffnete und ihre Stimme, mit der sie auch Fremde hinein bat. Den drei Männern am Nebentisch ging es nicht anders. Nur waren sie in diesem Fall nicht aufgefordert worden, einzutreten. Sie ließen ihre weißen Zähne Richtung Emmi blitzen, lachten und zwinkerten. Selbstbewusst ignorierten sie Kerem. Kerem musste lachen und Emmi ahnte, dass er das Gespräch am Nebentisch belauscht hatte. „A destra, signori, io sono l'amico. E molto geloso.“, ein bisschen zu selbstgefällig hatte Kerem den Männern geantwortet. Sie quittierten Kerems Überheblichkeit mit stolzer Sicherheit, in diesem Moment aus vielen Gründen im Vorteil zu sein. Einen davon hatte Kerem unterschätzt: Es war ihr Land, ihre Sprache und eine Leidenschaft, von der er keine Ahnung hatte. Sie sahen an ihm vorbei zu Emmi und sagten etwas, das Emmi nicht verstand und Kerem nicht übersetzen wollte.

Er zahlte und sie verließen, ohne miteinander gesprochen zu haben, das Lokal. Erst in ihrem Zimmer stellte Kerem die Frage, die wie an einem Fliegenfänger die ganze Zeit in dem kleinen Luftspalt zwischen ihnen geklebt hatte und herumzappelte. Jetzt fiel sie herunter, schlug lauter und heftiger auf als Kerem es gewollt hatte und prallte gegen Emmis Stille. „Was ist, wenn wir nach Hause kommen? Wird dann alles wieder normal?“ Drei Monate war es jetzt her. Freunde, Familie und Kerem, sie alle hatten Emmi in Ruhe gelassen, hatten sich um sie gekümmert und akzeptiert, dass sie ihre Trauer nicht teilen wollte. Kerem hatte dies alles zulassen können, weil Patrick nicht zu ihrem gemeinsamen Leben, sondern nur zu Emmi gehört hatte. Dieser Urlaub auf Sardinien sollte der Punkt am Ende des Satzes „Er kommt nicht wieder.“ sein. Kein Nebensatz, keine Ausweichmanöver mehr. Er wollte ohne Umwege zurück nach Hause. Der Rest konnte von ihm aus in diesem glasklaren, hellblauen Meer untergehen. Emmi hörte die Frage und zog ihre Schuhe aus. Sie hätte sich doch lieber für ein bequemes Paar mit flachen Absätzen entscheiden sollen. Gleichzeitig war sie froh über den Schmerz ihrer zusammen gequetschten Zehen. Ein echtes, greifbares Gefühl und eine klare Sache von Ursache und Wirkung. Zu hohe Schuhe lassen die Füße nach unten rutschen und nehmen den Zehen den Raum, so breit zu sein, wie die Natur sie gemeint hat. Es gibt immer eine Erklärung. Und im selben Moment wusste sie, dass das nicht stimmte. Langsam bewegte sie sich durch den großen Raum auf die Flügeltür zu, die zur Terrasse führte, zog sie behutsam auf und suchte irgendwo in der Ferne das Rauschen des Meeres. „Wenn wir nach Hause kommen, wird alles wieder normal sein“, antwortete Emmi mit fester, klarer Stimme. Ein bisschen zu tief, ein bisschen zu ruhig. Aber das fiel Kerem schon nicht mehr auf. Er sammelte die Worte schnell ein und packte sie erleichtert in den Koffer. Jetzt war alles gut. In drei Tagen würden sie nach Hause fliegen und da weiter machen, wo sie unterbrochen worden waren. Er selber hatte erst an dem Morgen als der Anruf kam, von Patrick erfahren. Emmi hatte ihn vier Jahre lang für sich behalten. Eine fremde Geschichte, die sich plötzlich einmischte und zu ihrer eigenen wurde. Emmi war sofort losgefahren. Als würde mit jeder Minute die Chance kleiner, einen kostbaren Schatz zu bergen. Kerem hatte keine

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