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ihrer Wange und es war gut, hier zu sein. Es war gut, einen konkreten Plan zu haben. Der alte Mann nickte und sie fuhren weiter.
Du warst noch schläfrig von der Narkose und es ging dir nicht besonders gut. Du hast mich sofort erkannt und meinen Namen genannt. Es war deine Stimme, vertraut und neben mir. Ich wusste, hier und jetzt hast du keine Angst vor der Nähe. Dir war klar, ich war nur hier, um mit dir zu sein. Ich wollte nicht bei dir sein und das hat dich beruhigt. Ich habe mich gefragt, ob du gewusst hast, dass ich gekommen war, um dich zurück zu holen. Deine Augen haben nichts verraten und dein Mund war wie immer zu schön, weich geschwungene, sanft aufeinander liegende Lippen, zu unnahbar, um zu sprechen. Ich hatte dich losgelassen, ganz ohne Erwartung und ich hatte aufgehört, dich zu wünschen, aber ohne dich aufzugeben. Vielleicht hast auch du dich in diesem einen wachen Augenblick daran erinnert, wie wir damals in dem Zimmer nebeneinander standen und uns das erste und einzige Mal geküsst haben. Es war unser sechzehnter Geburtstag und du hattest bereits einen Freund. Du warst wie immer schneller als ich. Ich wollte unbedingt ein Teil von der Liebe zwischen euch sein und wissen, wie das ist, wenn ihr euch küsst. Ich habe uns beide belogen. Ich wollte fühlen, wie es ist, wenn ich dich küsse. Du hast gelacht und dann haben wir uns geküsst und waren am Ende beide erschrocken darüber, dass es schön und zugleich falsch war. Ich fand im Falschen das Richtige und es tat weh. Aber du hast dafür gesorgt, dass wir uns nicht in dem Kuss verlieren. Du hast gelacht und so getan, als wäre dies ein gelungenes Experiment für eine vier Minuten jüngere Schwester gewesen. So wie damals, als wir die Haare meiner Puppe angezündet haben, weil ich behauptet hatte, sie seien echtes Menschenhaar. Was immer es auch gewesen war, es brannte ganz vortrefflich und wir zwei bekamen großen Ärger. Danach lernten wir, Masken zu tragen. Als unsere Gäste, auch dein Freund, kamen, knutschte ich mit einem Jungen. Wir sahen uns danach nie wieder. Die Liebe ist frei und nach ihrem Grund zu suchen ist so sinnlos, wie die Frage, wann es anfing. Du hast die Augen geschlossen und bist wieder eingeschlafen. Leise habe ich mich auf den Stuhl neben deinem Bett gesetzt, als könnte meine Anwesenheit dich davor bewahren, in die falsche Richtung zu gehen. Nach zwei Stunden kam die Krankenschwester herein, um nach dir zu sehen. Wahrscheinlich hatte sie Angst, ich könnte dich mit einem Kissen erstickt oder die Infusion herausgezogen haben. Als sie sah, dass alles in Ordnung ist, lächelte sie dir zu, mich ignorierte sie und ging hinaus. Kurz bevor Jonas eintreffen wollte, bin ich gegangen. Es gab nichts zu erklären und nichts zu teilen. Eure Liebe hatte nichts mit mir zu tun. Sie blieb unberührt, wie hätte ich mit ihm teilen können, dass da diese Melodie in mir ist, wenn ich bei dir bin. Du hattest großes Glück, Jonas zu treffen. Er hatte längst verstanden, wer ich war. Glücklich, dass es dir besser ging, bin ich ins Hotel gegangen und wollte dich am nächsten Tag wieder besuchen. Als mein Telefon klingelte, stand ich unter der Dusche und hörte nichts. Nur dieses Lied in mir. Und auch als ich die Dusche verlassen hatte, dauerte es noch mehr als 40 Minuten, bis ich den verpassten Anruf auf meinem Handydisplay bemerkte. Als ich seine Nummer erkannte, wusste ich es bereits.
Als sie Burmini erreichten, verringerte ihr Begleiter das Tempo und fuhr langsam durch diesen Ort, in dem ewige Zeitfinsternis zu herrschen schien. Es war heiß und auf den Straßen befanden sich nur ein paar ältere Menschen in Stoffhosen und langärmligen Hemden. Emmi fühlte diese unaufgeregte Lebendigkeit wie einen kühlen Luftzug. Es war ein kleiner Ort, in dem es überall merkwürdige Kunstwerke am Straßenrand gab. Vor jedem Haus wuchs ein farbenprächtiger Oleander, Wäsche baumelte von der Leine und ließ sich von der Mittagssonne ausbleichen und trocknen. In der Mitte des Ortes lag ein runder Platz umsäumt von Palmen, in deren Schatten zwei Hunde Schutz gesucht und gefunden hatten. Es war gut hier zu sein, aber es gab keinen Grund zu bleiben. Der alte Mann verließ ohne Emmis Zustimmung sein Heimatdorf und folgte der Straße, die in steilen Kurven hinab zum Meer führte. Eine halbe Stunde später hatten sie ihr Ziel erreicht. Eine kleine, abgelegene Bucht. Als sie ankamen hatte Emmi das Gefühl, sie wäre so klein, dass gerade zwei Menschen hierher gehörten. Ein kleines ovalförmiges Stückchen Strand als Begrenzung für ein glasklares Wasser in den verschiedensten Blautönen. Emmi musste an Kerem denken, der dies alles niemals sehen würde.
Der alte Mann stieg aus dem Auto und zeigte ihr einen kleinen Weg hinunter zum Strand und zum Meer. Sie sahen sich nicht mehr an und sprachen kein Wort. Keine Geste konnte jetzt noch etwas Richtiges hinzufügen. Er drehte sich um, setzte sich in das Auto und fuhr davon. Emmi ging hinunter zum Strand. Genau bis zu dem Rand, den das Meer zieht, weil das Wasser den Sand dunkel färbt. Sie sah lange hinaus bis zu diesem rosa Streifen der Meer und Himmel voneinander trennt. Vorsichtig zog sie ihre Kleider aus, als würde der Stoff bei der kleinsten, falschen Bewegung zerreißen. Jedes Stück faltete sie ordentlich zusammen und machte daraus einen perfekten viereckigen Kleiderstapel. Eine Nachricht an Kerem. Es hätte niemals wieder alles so werden können wir vorher. Normalerweise ließ sie ihre Kleider dort fallen, wo sie sie gerade auszog und sammelte sie später wieder ein. Kerem hatte das immer gestört, aber das gehörte zu den Dingen, die sie ihm zuliebe nie verändert hatte. Ausziehen ist eine Vorwärtsbewegung, hatte sie einmal zu ihm gesagt. Und dabei gelacht. Es macht mir Spaß, weil es mich frei und leicht macht. Aufräumen kann ich immer noch. Meistens hatte Kerem ihre Kleider sofort eingesammelt und ordentlich auf einen Fleck gelegt, so wie Emmi es jetzt in diesem Augenblick getan hatte. Sie genoss das kalte, weiche Wasser und spürte die Kraft, die mit den ersten Schwimmzügen kam. Sie war eine gute und sichere Schwimmerin. Mit langen kräftigen Armzügen schwamm sie dem Horizont entgegen und die Melodie in ihr klang laut und wunderschön. Seit der Beerdigung hatte sie sie nicht mehr gehört. Doch jetzt war die Stille voller Musik. Sie schwamm solange bis das Meer eine Hülle war und die Melodie so laut wurde, dass sie vor Glück schreien wollte und doch nicht mehr konnte. Emmi war vollständig hineingetaucht in die unendliche Weite und Schönheit dieser Insel. Was blieb, waren ordentlich aufeinander gelegt ein dunkelblauer Rock, ein weißes T-Shirt, Unterwäsche und Sandalen. Sie war einer Spur gefolgt und hatte selber keine hinterlassen.
Warum konntest du nicht bleiben? Als Jonas mich anrief und in den Hörer schrie, dass es ein kleines Blutgerinsel in deinem Bein bis zu deinem Herzen geschafft hätte, war ich so wütend auf dich, dass ich die Glasschüssel auf dem Tisch des Hotelzimmers auf den Boden schleuderte. Und erst der schrille Ton des zersplitterten Glases beruhigte mich. Wieso hast du nicht gekämpft? Wieso hast du einfach dagelegen und zugesehen, wie dieser kleine Pfropfen Blut über unser Leben entscheidet? Egal, wo du warst, solange du da warst, war auch dieser Teil von mir da. Jetzt war er für immer verloren. Ich habe dich nie vermisst, weil ich dich für mein Leben nicht brauchte. Ich wollte dich nicht brauchen, aber ich habe dich in mein Leben gewünscht. Weil es nur mit dir mein Leben war. Ein vollständiges Leben. Deswegen habe ich den Entschluss gefasst, dich ein letztes Mal zu suchen, um ein ganzer Punkt am Ende unserer Geschichte zu werden. Je weiter ich schwimme, umso kleiner wird die Zeit und umso größer wird der Raum. Endlich ist da wieder diese Melodie in mir, sanft zeigt sie mir den Weg, bis das Wasser zu stark wird und die Zwillingssaite zerreißt. Und ich weiß nicht mehr, ob es dein oder mein Herzschlag ist, der in meinen Ohren pocht. Gleich werden wir die gleichen Bilder sehen und in ihnen spazieren gehen. Lächelnd sinke ich ein, in die Unendlichkeit des Meeres.
Nach zwei Tagen gaben die Polizei und die Behörden die Suche und Kerem die Hoffnung auf. Den Kleiderhaufen hatte der Suchtrupp sofort entdeckt. Kerem erkannte den blauen Rock, der für seinen Geschmack viel zu kurz gewesen war, sofort. Liebevoll streichelte er über diesen ordentlichen Kleiderberg. Es wäre alles gut geworden. Ordnung und Struktur, am Ende war Emmi zu ihm zurückgekehrt. Das erste Mal in seinem Leben weinte Kerem, weil das Schicksal ihn so unverschämt betrog. Ein tragischer Unglücksfall. Sie war wahrscheinlich doch zu weit hinausgeschwommen, hatte die Orientierung verloren und es dann nicht mehr zurück zum Strand geschafft. Kerem wollte es erst nicht glauben. Sie war eine ausgezeichnete Rettungsschwimmerin, konnte sich problemlos an der Strömung orientieren und hatte viel Kraft und konnte lange und ausdauernd schwimmen. Nach zwei Tagen waren sich alle einig, dass es keine Hoffnung mehr gab, ihren Leichnam zu finden. Der alte Sarde hatte die Polizei mit den Tauchern zu der kleinen Bucht gebracht und ausgesagt, dass sie dort nur ein wenig allein sein wollte, um die Schönheit Sardiniens in Gedanken mit nach Hause zu nehmen. Was er gesehen hatte, erzählte er nicht. Die Wahrheit war ertrunken. Wochen nachdem Emmi verschwunden und Kerem schon längst nach Hause geflogen war mit einem Sarg voller Kleider, fuhr der alte Mann zu der kleinen Bucht und ging hinunter zu der Stelle, an der man die Kleider gefunden hatte. Er stand da und weinte. Er konnte sich einfach nicht mehr an ihr Gesicht erinnern.