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in den Raum geworfen und dann dort liegengelassen. Es war offensichtlich, dass von Sylvia eine Stellungnahme erwartet würde, aber Sylvia wollte Herrn Wendland partout nicht diese Freude machen. Sie schwieg, denn ihres Erachtens war bereits alles gesagt. Gleichzeitig aber registrierte Sylvia auch die Blicke der Kollegen, die Unverständnis zum Ausdruck brachten. Warum sagt sie denn nichts?
„Frau Sträter“, begann Herr Wendland schließlich, „vielleicht können Sie kurz etwas zu Jamal sagen.“
Sylvia seufzte hörbar laut. Sie wusste, es führte kein Weg an dieser Angelegenheit vorbei.
„Nun, Herr Wendland“, eröffnete sie ihr Plädoyer, „wie ich Ihnen und dem Kollegen Schüttert ja in Einzelgesprächen mehrfach dargelegt habe, hat Jamal das gesamte Schuljahr über jegliche Leistung schlichtweg verweigert. Aussagen wie Ich wähl das eh ab! oder Ich versteh das eh nicht! sind die konstruktivsten Beiträge seinerseits gewesen. Ich habe sehr früh die Eltern zu einem Gespräch eingeladen, Förderunterricht und die Vermittlung privater Nachhilfe vorgeschlagen und außerdem ganz klar skizziert, welche Minimalanforderungen erfüllt sein müssen, um das drohende Defizit abzuwenden. Ich habe im kompletten zweiten Halbjahr lediglich zweimal Hausaufgaben von ihm bekommen“. Sylvia schaute in ihren Lehrerkalender. „Und zwar am 10. Mai und am 13. Juni dieses Jahres. Diese Hausaufgaben waren beide unvollständig und fehlerhaft. Angebote extracurricularer Natur wie ‚Texte oder Konjugationen einreichen’ hat er ausgeschlagen, die Vokabelteste waren alle Mangelhaft. Ich war mir darüber im Klaren, dass Jamal das Fach Französisch abwählen konnte, aber daraus ergeben sich für mich nicht zwangsweise andere Bewertungskriterien als bei einem Schüler, der das Fach Französisch in der Oberstufe beibehält. Mir ist klar, dass dem Schüler nun eine Nachprüfung droht, aber ich bin überzeugt, dass Jamal lernen muss, dass sein Handeln, oder besser gesagt, sein Nicht-Handeln Konsequenzen hat. Es wäre, auch und gerade im Hinblick auf die Oberstufe das falsche Signal, ihn für seine Inaktivität, für seine Faulheit zu belohnen.“
Wieder wurde eine Weile geschwiegen. Herr Wendland, in Erwartung, dass der Schulleiter sich nun zu Wort melden würde, schwieg sich aus, genauso Herr Schüttert. Auch die anderen Kollegen erkannten, dass der Schulleiter kurz davor war, Einspruch zu erheben.
„Wie waren denn die Noten in den Klassenarbeiten?“, fragte Herr Diedrichs schließlich, in einem nicht unfreundlichen, aber doch sehr sachlichen Ton.
Sylvia warf einen Blick in ihren Lehrerkalender.
„Im ersten Halbjahr eine Drei minus und eine Fünf minus. Im zweiten Halbjahr eine Vier minus und eine Fünf minus.“
Herr Diedrichs setzte einen leicht irritierten Blick auf.
„Jamal ist also durchaus in der Lage, befriedigende oder ausreichende Leistungen abzurufen.“
„Ja, natürlich“, entgegnete Sylvia Sträter. „Das Potential hat er. Aber das Notenbild weist eine klare Tendenz auf, und ein einzelnes Befriedigend im ersten Halbjahr bewahrt einen Schüler nicht vor einem Defizit.“
„Es macht aber die Jahresendnote juristisch anfechtbar“, warf Herr Wendland ein.
Jetzt war für Sylvia der Bogen überspannt.
„Entschuldigen Sie, aber wer geht denn bitte juristisch gegen mich vor? Die Eltern von Jamal ja wohl nicht. Ich verstehe den Kontext dieser Aussage nicht.“
„Niemand will juristisch gegen Sie vorgehen, Frau Sträter“, beschwichtigte Herr Wendland sogleich. „Ich wollte lediglich auf Fälle von Widersprüchen verweisen, die ich selbst erlebt habe und in denen Kollegen aufgrund befriedigender Leistungen in Klassenarbeiten argumentativ ins Schwimmen gerieten. In der Regel werden Widerspruchsverfahren gegen den Lehrer entschieden.“
„Das mag sein“, warf Sylvia Sträter ein, überrascht über ihren Mut zur Konfrontation, „aber wenn wir jede Entscheidung, die wir hier treffen, von ihren möglichen Konsequenzen aus bewerten, dann treffen wir am Ende gar keine Entscheidungen mehr. Und aus Angst vor Entscheidungen lassen wir den Schülern dann alles durchgehen. Ich würde es auf einen Widerspruch ankommen lassen. Die Leistungen, beziehungsweise die Minderleistungen Jamals sind genau dokumentiert.“
„Ihnen ist aber bewusst“, fragte Herr Diedrichs nun, „dass Jamal sich dann in den Sommerferien auf die Nachprüfung vorbereiten muss und im Falle des Bestehens kein Französisch mehr haben wird?“
„Das ist mir bewusst. Das war mir bewusst“, erklärte Sylvia kurz angebunden. „Auch Jamal wurde auf diesen Umstand mehrmals hingewiesen.“
Wieder entstand eine Pause. Herr Diedrichs schaute Sylvia prüfend an, Sylvia hielt seinem Blick mit unbewegter Miene stand. Der Schulleiter realisierte, dass hier nichts zu holen war. Aber eines hatte er erreicht: In den Augen einiger Kollegen galt Sylvia Sträter fortan als unverhältnismäßig streng und persönlich in ihrer Notengebung. Und auch Sylvia konnte nicht mehr zweifelsfrei sagen, ob sie an der Fünf festhielt, weil Jamal sie verdiente oder weil ihr die Art der Einflussnahme seitens der Schulleitung so missfiel.
„Herr Lütken“, sagte Herr Diedrichs schließlich, und wandte sich damit an den Referendar, der in der Klasse Deutsch unterrichtete. „Im Notenmodul haben Sie eine Vier plus eingetragen, eine Tendenz zur Drei ist also erkennbar. Können Sie sich in Anbetracht der Umstände vorstellen, hier noch eine Drei zu setzen?“
Der Referendar errötete. Sein Blick glich dem eines Rehs, das auf einer Straße stand und plötzlich Schweinwerfer auf sich zukommen sah. Er rutschte etwas tiefer in seinen Stuhl, schaute sich kurz hilfesuchend um räusperte sich dann.
„Also, ähh“, begann er zögerlich, „der Jamal versucht schon sich am Unterricht zu beteiligen, allerdings sind seine Antworten manchmal falsch, also vom Inhalt aber auch von der Grammatik her. Aber er hat auch eine Drei geschrieben, allerdings in einer Klassenarbeit, die gut ausgefallen ist.“
Wieder Schweigen. Der Klassenlehrer, der Mittelstufenkoordinator und der Schulleiter sagten nichts, denn die entscheidende Frage hing immer noch unbeantwortet im Raum, und der Druck, der auf dem Referendar lastete, war mehr als ausreichend.
„Also, wenn es Jamal hilft, ich weiß nicht“, stotterte der Referendar. „Ja, ich denke schon, dass ich die Drei vertreten könnte.“
Klar kannst du das, dachte Sylvia wütend. Du willst ja nicht riskieren, dass das Schulleitergutachten deine Zukunft ruiniert.
„Gut, Herr Lütken, dann ändere ich die Note ab“, beeilte Herr Wendland sich zu sagen und änderte die Deutschnote für alle sichtbar am Computer. „Damit hat Jamal einen Ausgleich zu Französisch und ist versetzt. Kommen wir zum nächsten Schüler..“
Ab diesem Moment hörte Sylvia nicht mehr zu. Ihr wurde heiß, als säße sie auf glühenden Kohlen. Ihr Blick war starr geradeaus, fixierte die gegenüberliegende Wand, versuchte, diese mit reiner Willenskraft zu zerbrechen. Irgendwas muss jetzt explodieren, fühlte sie, sonst explodiere ich. Es gelang ihr nicht, auch nur einen klaren Gedanken zu