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kann man dieses mangelnde Engagement anders ansprechen, ich denke da an eine Zeugnisbemerkung, ein Elterngespräch oder ähnliches, auf jeden Fall..“
Es klopfte an der Tür. Ohne auf ein Signal von Herrn Wendland zu warten, drückte jemand behutsam die Klinke von außen herunter und steckte den Kopf durch den sich öffnenden Spalt. Es war Frau Rösner, eine Lateinlehrerin.
„Sie wollten mich sprechen, Herr Wendland?“, fragte sie in übertrieben demütigem Tonfall, wie Sylvia fand.
„Ja, danke Frau Rösner. Ich bin gleich bei Ihnen. Bitte warten Sie noch einen Moment draußen.“
Die Tür schloss sich wieder. Herr Wendland warf ihr noch ein ‚Dankeschön’ hinterher. Wahrscheinlich sein nächstes ‚Gespräch’, glaubte Sylvia.
„Gut, also, Frau Sträter, vielleicht lassen Sie sich meine Argumente nochmal durch den Kopf gehen. Nach meinem Dafürhalten ergeben die beiden Mangelhaft aus pädagogischer Sicht keinen Sinn. Wenn Sie bereit sind, die Noten zu ändern, dann geben Sie mir kurz vor der Konferenz Bescheid, dann gebe ich das noch schnell in die Notenübersicht ein.“
„Okay, so verbleiben wir“, sagte Sylvia, stand abrupt auf, drehte sich um und ging zur Tür.
„Ach, eine Sache noch!“, warf Herr Wendland ein, ein wenig überrascht vom plötzlichen Aufbruch der jungen Kollegin. Sylvia drehte sich noch einmal zu ihm um.
„Ja!?“
„Der Schulleiter wird wahrscheinlich der Zeugniskonferenz beiwohnen.“
„Okay“, erwiderte Sylvia. Auch wenn es ein Aussagesatz war, verfehlte er dennoch nicht seine intendierte bedrohliche Wirkung. Sylvia war nervös.
Zurück im Lehrerzimmer empfing Roman sie mit einem aufmunternden Lächeln.
„Na, war’s schlimm?“, fragte er.
Sylvia wusste nicht, wie sie darauf antworten sollte. Grundsätzlich hatte sie nichts dagegen, wenn man sie darum bat, ihre Noten zu erläutern, aber die Art und Weise, wie hier auf Lehrer Druck ausgeübt wurde, war mehr als perfide. Und gleichzeitig kam ihr das Kollegium wie ein verschreckter Haufen vor, der sich nur hinter vorgehaltener Hand über die Machenschaften der Schulleitung aufregte. Wenn es darum ging, Farbe zu bekennen, waren selbst die Kollegen, die sie für gestandene hielt, ganz klein mit Hut.
„J’accuse!“, rief Sylvia flachsend und reckte die Faust in die Höhe. Roman lachte.
„Sieh es mal so“, sagte er, nachdem sie beide wieder ernst geworden waren. „Wer keine Fünfen gibt, hat weniger Arbeit. Du musst keine Lern- und Förderempfehlungen schreiben, keine Elterngespräche führen und die da oben lassen dich auch in Ruhe.“
Sylvia rang sich ein Lächeln ab. Aber eigentlich wusste sie nicht, was sie schockierender fand: die Tatsache, dass Roman ahnte, warum Herr Wendland sie hatte sprechen wollen oder seine Verteidigungsrede der moralischen Flexibilität.
Eine gute dreiviertel Stunde später begannen die Zeugniskonferenzen. In einem der größeren Klassenräume hatte Herr Wendland seinen Laptop an einen Beamer angeschlossen um die Notenübersicht aller Schüler an die Wand projizieren zu können. Nach und nach betraten die einzelnen Fachlehrer den Raum und verteilten sich ungeordnet auf den Stühlen. Der Klassenlehrer, Herr Schüttert, überprüfte die Anwesenheit aller Fachlehrer und bemerkte, dass die Sportlehrerin Frau Waschke noch fehlte. Ein Kollege ging sie suchen und kam wenige Minuten später mit ihr im Schlepptau zurück. Der Schulleiter selbst war nicht anwesend.
„Gut, liebe Kolleginnen und Kollegen“, sagte Herr Wendland im Ton dienstlicher Beflissenheit, „dann eröffne ich hiermit die Zeugniskonferenz der 9a und übergebe das Wort zunächst an den Klassenlehrer.“
„Ja, danke Gregor“, begann Herr Schüttert. „Zunächst vielleicht ein paar allgemeine Dinge zu der Klasse. Wir haben es hier mit einer Lerngruppe zu tun, die sich durch verschiedene soziale Probleme hervor tut. Es gibt viele Grüppchen und häufig knallt es auch zwischen den einzelnen Cliquen. Vor allem Maik, Amer und Nabil geraten immer wieder mit Annika, Gizem und Fatima aneinander. Hinzu kommt, dass Polina von allen Klassenkameraden geschnitten und isoliert wird, wobei ich das Gefühl habe, dass Polina das nicht sonderlich berührt. Es stellt sich auch die Frage, inwiefern Polinas jüdische Herkunft für diese Isolierung verantwortlich zeichnet. Im Unterricht habe ich jedenfalls keine religiös motivierten abfälligen Kommentare gehört, aber vielleicht haben Sie diesbezüglich etwas vernommen. Was auch auffällt, ist die Tatsache, dass es keine wirklichen Leistungsträger gibt, die leistungsschwächere Schüler motivieren und mitziehen, was wiederum die extrem schwachen Lernleistungen erklärt.“
„Gottseidank“, warf ein Kollege grinsend ein. „ Und ich dachte schon, der Fehler läge bei mir.“
Einige Kollegen lachten laut auf, Herr Wendland und Herr Schüttert zeigten sich ungerührt. Dennoch war die Stimmung verhältnismäßig gelöst. Doch als Kollege Schüttert wieder zum Sprechen ansetzte, tat sich plötzlich die Tür auf und der Schulleiter, Herr Diedrichs, schob sich durch den Rahmen. Er setzte sich geräuschlos auf den erstbesten Platz neben der Eingangstür.
Herr Schüttert machte eine kurze Pause und sah den Schulleiter erwartungsvoll an.
„Bitte“, sagte Herr Diedrichs, als er den Blick des Klassenlehrers bemerkte, „fahren Sie fort.“
Schlagartig herrschte eine andere Atmosphäre. Lehrer, die sich eben noch lässig in die hölzernen Stühle gefläzt hatten, richteten sich auf. Zwei Kolleginnen, die ihre Handys auf dem Tisch liegen hatten, packten sie unauffällig weg und auch das Geraschel von Papier und das Klicken der Kulis verstummte. Sylvia bemerkte ebenfalls eine Veränderung an sich. Sie rüstete sich mental für den Schlagabtausch mit dem Chef, der ihr unweigerlich bevorstand.
„Ich denke“, nahm Herr Schüttert den Faden wieder auf, ,,dass es das Sinnvollste ist, wenn wir nach der Schwere der Fälle vorgehen. Zuerst wäre da Lemer Duruöz mit einer Fünf in Mathe, einer Fünf in Englisch, einer Fünf in Deutsch, einer Vier in Latein und einer weiteren Fünf in Biologie.“
Eine Totgeburt, dachte Sylvia. Bei Lemer war die Sache so klar, dass selbst der Schulleiter hier keinen Diskussionsbedarf sah. Jeder der einzelnen Fachlehrer legte nochmal die Argumente für die schlechte Bewertung dar: Noten wurden runtergerasselt, vergessene Hausaufgaben auf den Tag genau datiert, bizarre oder schlicht dumme Aussagen des Schülers wiedergegeben und vergebliche Maßnahmen geschildert. Nachdem alle Lehrer den Schüler in seiner kognitiven Inkompetenz filetiert hatten, gab es eine Schweigeminute, in der mögliche Fürsprecher noch zu Wort kommen konnten. Doch da war nur Stille.
„Okay“, sagte Herr Schüttert, „dann kommen wir zu Jamal Agah. Eine Vier in Deutsch, eine Vier in Mathe, eine Vier in Englisch und eine Fünf in Französisch. Jamal wäre nach aktuellem Stand nicht versetzt, hätte aber die Möglichkeit auf eine Nachprüfung in Französisch.“
Wieder wurde diese Feststellung einfach so